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Kritik an Sotheby's Versteigerung von "Der Schrei"

1998
1970
1945
Welt Online 2 May 2012
By Clemens Bomsdorf

Edvard Munchs berühmtestes Bild wird am Mittwochabend in New York versteigert. Zum höchsten Preis aller Zeiten, vermuten Experten. Womöglich wurde das Gemälde aber 1937 unter Zwang verkauft.

"Der Schrei" bei Sotheby's
© DPA 80 Millionen Dollar beträgt der Schätzpreis, zu dem Sotheby's in New York eine Version von Edvard Munchs "Der Schrei" aufruft. Wenn die Bieter bei Laune sind, könnte das den Preis über die 140 Millionen treiben, die Jackson Pollocks "No. 5, 1948" 2006 erzielte 

Wenn am heutigen Mittwochabend um 19 Uhr New Yorker Zeit die aktuelle Sotheby’s-Auktion eröffnet wird, dann wird diese nicht nur die Kunstmarkthysterie in einer Zeit wirtschaftlicher Probleme widerspiegeln. Schließlich kommt die vierte und einzige in Privatbesitz befindliche Version von Edvard Munchs "Der Schrei" unter den Hammer – zu einem Schätzpreis von 80 Millionen Dollar. Die viel beachtete Auktion lässt ebenso eine weniger glanzvolle Geschichte aufleben – von Flucht vor den Nazis, der Zerschlagung von Kunstsammlungen und dem Verlust an Reichtümern sowie dem Exiltod eines Nachfahren, der sich übergangen fühlte. Auch davon klagt das berühmte Motiv.

"Wir sind mit dem Verkauf nicht einverstanden. Wir meinen, es ist eine wichtige moralische Angelegenheit, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren", sagt Rafael Cardoso "Welt Online". Der in Brasilien lebende Kunsthistoriker ist der Urenkel des Vorbesitzers Hugo Simon und gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder der einzig verbliebene Nachfahre. Er meint, Petter Olsen, der gegenwärtige Eigentümer, und Sotheby’s verhielten sich falsch, weil sie den "Schrei" ohne viel Aufheben um dessen Provenienz versteigerten.

Edvard Munch (1943)
© picture-alliance / akg-images Der norwegische Maler Edvard Munch (1863-1944) malte den "Schrei" insgesamt viermal
Petter Olsen
© SCANPIX NORWAY Noch-Munch-Besitzer Petter Olsen auf seiner Farm nahe der norwegischen Kleinstadt Hvitsten

"Simon handelte unter Zwang"

Bevor die Pastell-Version des Bildes in die Sammlung der norwegischen Familie Olsen kam, gehörte diese dem deutsch-jüdischen Bankier Simon. Der floh 1933 nach Paris – nicht wegen seiner Religion, sondern wegen seines linken politischen Engagements wurde er verfolgt. Teile seines Vermögens wurden beschlagnahmt, anderes konnte Simon retten – darunter den auf 1895 datierten "Schrei", der laut Sotheby’s von Simon über die Schweiz und Schweden in die Sammlung Olsen verkauft wurde. "Es ist offensichtlich, dass Simon dies unter Zwang tat, vermutlich unter Wert", sagt Cardoso mit Verweis auf die Flucht vor den Nazis. Er ist nicht einmal sicher, dass sein Urgroßvater den Verkaufserlös komplett oder überhaupt erhalten hat.

Anfang 2012, so Cardoso, bot Petter Olsen via Anwälte den Simon-Nachkommen an, 250.000 Dollar zu spenden, wenn sie ihr Plazet zum Verkauf geben würden. Die lehnten ab. Die Summe – drei Promille des Schätzpreises – war ihnen zu niedrig, außerdem wollte Olsen selbst entscheiden, wie die Spende verwendet wird. Für einen Simon-Preis, sagt Sotheby’s.

"Ein annehmbarer Vorschlag wäre gewesen, eine Summe für Forschung oder Lehre zu Simon und der Weimarer Zeit zur Verfügung zu stellen", so Cardoso. Ein Gegenvorschlag wurde abgelehnt. "Die haben nicht zu rechtfertigen versucht, warum sie meinen, uns etwas zahlen zu müssen. Wenn sie keine ethischen Bedenken hatten, warum kamen sie überhaupt mit einem Angebot?", fragt sich Cardoso.

"Umstände des Kaufs verschwiegen"

Sotheby’s und Olsen brauchen die Zustimmung der Simon-Nachfahren zum Verkauf nicht. Doch Simon wurde von den Nazis verfolgt, verkaufte das Bild im Exil. In solchen Fällen ist es hilfreich, ein Plazet zu haben, um zu signalisieren, dass die Historie des Bildes auch moralisch geklärt ist.

"Für mich ist es ein Unding, wie Sotheby’s hier vorgeht", so Kunsthistorikerin und Simon-Biografin Nina Senger. Sie stört nicht nur, dass die Zustimmung der Erben fehlt, sondern auch, dass die Umstände des Verkaufs verschwiegen werden. "Man weiß um Simons Schicksal, und das hätte ausführlicher dargestellt werden müssen. Er hatte gerade noch geschafft, aus Deutschland zu fliehen, und war unter Druck", so Senger. Auf Anfragen beruft sich Sotheby’s darauf, die Liste derer, die den "Schrei" besaßen, publik gemacht zu haben.

Mehrere Bilder – darunter auch den Munch – ließ Simon während der Nazizeit in die neutrale Schweiz bringen und zum Teil verkaufen. 1941 floh er weiter nach Brasilien, wo er 1950 starb – verarmt, so Cardoso. "Sicher diente jeder Gegenstand, den er zwischen 1933 und 1941 verkaufte, dem Überleben", so Cardoso. Das gelte auch für den "Schrei".

Der Kaufvertrag ist verschwunden

Cardoso sagt, dass es juristisch nichts zu beanstanden gebe, schließlich sei Olsen rechtmäßiger Besitzer. Darauf weist auch Sotheby’s hin, als "Welt Online" das Auktionshaus mit Cardosos Vorwürfen konfrontiert. Gefragt, ob ein solches Plazet wichtig sei, wird lediglich darauf hingewiesen, dass man sich mit den Nachfahren einig sei, dass von deren Seite keine juristischen Ansprüche existierten.

Nachhaken bewirkt, dass Sotheby’s einen Teil der Dokumente, die die Provenienz des Bildes belegen, herausgibt. Laut einem Brief aus dem Archiv des Kunsthauses Zürich bat Simon am 27. Dezember 1936 das Schweizer Museum, bei dem mehrere seiner Werke eingelagert waren, das Bild zum Kunsthändler Molvidson nach Stockholm zu liefern.

Nicht von Sotheby’s, sondern aus anderer Quelle erhält "Welt Online" einen Scan eines weiteren Schreibens aus dem Kunsthaus-Archiv. Darin bestätigt Molvidson im ebenfalls neutralen Schweden am 12. Januar 1937 die Ankunft mehrerer Munch-Bilder, darunter – wie es vom Schweden auf Deutsch genannt wird – "Das Geschrei". Einen Kaufvertrag zwischen Olsen und Molvidson kann Sotheby’s nicht vorlegen. Vermutlich sei ein solches Dokument verloren gegangen, da alle drei Beteiligten – Simon, Molvidson und Olsen – rund drei Jahre nach dem Handel ins Exil gegangen seien, heißt es.

"Der Schrei" war damals keine Ikone

Auch der ebenfalls als Kunsthändler arbeitende Nachfahr Robert Molvidson kann diese Geschichte heute weder verifizieren noch falsifizieren: "Davon habe ich nie gehört, ich habe auch meine Verwandtschaft kontaktiert, denen war es ebenfalls neu, dass die Familie Munchs Bild verkauft haben soll." Auch Archivmaterial gebe es keines.

Dass Dokumente und Erinnerungen die Geschichte des "Schreis" nur lückenhaft belegen, heißt nicht, dass Sotheby’s falsche Angaben macht oder der Verkauf juristisch nicht einwandfrei ablief. "Dass sich bei Molvidson niemand erinnert und es kein Archivmaterial zu dem Geschäft gibt, heißt nicht, dass der Verkauf nicht über Molvidson lief", sagt der Munch-Experte Dieter Buchhart. "Der 'Schrei' war damals nicht eine solche Ikone wie heute, nur eines von mehreren Hauptwerken. Munch war 'Das kranke Kind' wichtiger. "Deshalb ist die Geschichte vom Munch-Handel womöglich nicht von Generation zu Generation weitererzählt worden", so Buchhart.

Für das Grauen der Weltkriege

Cardoso geht es denn auch nicht darum, den Handel zu unterbinden oder den Käufer moralisch zu verurteilen. Das moralische Problem liegt für ihn bei Olsen und Sotheby’s. Für Cardoso könnte der Verkauf dennoch auch Positives bewirken, dann nämlich, wenn es doch eine Institution schafft, das Bild zu ersteigern: "Ich hoffe, das Werk kann so dann wieder von allen gesehen werden."

Es wäre eine seltsame Ironie der Geschichte, wenn nun ausgerechnet die von den Nachfahren nicht gutgeheißene Versteigerung des "Schreis" dazu führt, dass die moralische Dimension solcher Verkäufe wieder mehr diskutiert wird. Schließlich ist der "Schrei" wie wenige andere Kunstwerke mit den großen und kleinen Irrungen und Wirrungen, dem wirtschaftlichen und politischen Auf- und Niedergang sowie dem privaten wie gesellschaftlichen Schrecken zweier Jahrhunderte verbunden. Motiv und Geschichte von "Der Schrei" stehen für ganz persönliche Ängste ebenso wie für das Grauen zweier Weltkriege und auch für einen Kunstmarkt, der von der Geschichte losgelöst zu sein scheint.


http://www.welt.de/kultur/article106242756/Kritik-an-Sothebys-Versteigerung-von-Der-Schrei.html
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