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Hamburg erwarb enteignete Bibliotheken "im Ganzen"

1998
1970
1945
Die Welt 17 May 2012


Zigtausende Bücher, die einst Verfolgten des NS-Regimes gehört hatten, wurden über die "Reichstauschstelle" Universitätsbibliotheken angeboten und verkauft. Eine Hamburger Ausstellung klärt auf.

NS-Raubgut in Bibliotheken
© DPA Ein Buch aus ehemals jüdischem Besitz trägt den Stempel der Universitätsbibliothek Leipzig. Auch nach Hamburg gelangten durch nationalsozialistische Enteignungen große Buchbestände

Das unmoralische Angebot umfasste nur wenige Zeilen: Ob Interesse an der Bibliothek eines gewissen Ignaz Petschek bestünde, fragte die "Reichstauschstelle" am 1. Juni 1944 bei der Hamburger Staatsbibliothek an. Die Antwort war denkbar knapp: "Erwerbung im Ganzen!", vermerkte Bibliotheksdirektor Heinrich Reincke auf dem Schreiben, und Fachreferentin Hildegard Bonde kritzelte dazu: "sehr erwünscht". Kurz darauf landeten Hunderte Bücher aus der Berliner Behörde im Hamburger Bestand – Bücher, die der NS-Staat wenige Jahre zuvor dem jüdischen Unternehmer Petschek geraubt und der Reichstauschstelle übergeben hatte. Dieser war daraufhin mit seiner Familie in die USA geflohen.

Der staatlich legitimierte Raub an Ignaz Petschek war kein Einzelfall: Hunderttausendfach bereicherten sich Antiquariate, Bibliotheken und Auktionshäuser an den Büchern enteigneter Verfolgter des Regimes – Zehntausende Exemplare landeten in der Hamburger Staatsbibliothek. Dort zeigt jetzt eine Ausstellung die Geschichte einiger ursprünglicher Besitzer – und erklärt den langen Rechercheweg vom Anfangsverdacht bis zur Rückgabe eines Buches an die Erben enteigneter Opfer.

Die Ausstellung verdeutlicht die Dramatik der staatlich organisierten Hehlerei. Den Erläuterungen zum System der Enteignungen und zu den Nachforschungen der Bibliothek stehen die Geschichten der ursprünglichen Besitzer gegenüber. Schwarzweiß-Fotos, Widmungen auf vergilbten Buchseiten und die Schicksale verfolgter Familien legen die Geschichten hinter den geraubten Büchern offen: Viele Enteignete starben in Konzentrationslagern, andere flohen ins Ausland.

Eigene Lagerräume im Hafen

Das NS-Raubsystem funktionierte perfekt – und perfide: Wenn Juden auswandern wollten, gaben die NS-Bürokraten bisweilen Anordnungen an die Spediteure: Besitz von jüdischen Emigranten musste "sichergestellt" werden, im Hamburger Hafen gab es sogar eigene Lagerräume für diese "Lieferungen".

Die Aufarbeitung des systematischen Bücherraubs begann spät: Zwar erkundigte sich die Hamburger Kulturbehörde schon 1951 nach Schriften von enteigneten Juden in der Bibliothek, doch erst 1999 forderte die Bundesregierung offiziell zur Nachforschung auf. Es dauerte sechs weitere Jahre, bis sich 2005 in Hamburg eine Studentin für ihre Diplomarbeit mit dem NS-Raubgut beschäftigte. 2009 begann der Historiker Volker Circovius-Ratzlaff schließlich mit der Erforschung dieser dunklen Seite der Bibliotheksgeschichte.

Seitdem sind in Hamburg mehr als 1200 Schriftstücke und Bücher als NS-Raubgut identifiziert worden. Circovius-Ratzlaff fahndete dafür etwa in den großformatigen Zugangsbüchern der 1940er-Jahre nach verdächtigen Einträgen. Neuzugänge aus Enteignungen werden dort als "Geschenk" oder "Alter Bestand" ausgegeben, teilweise auch als Kauf aus Auktionen. Aufklären lässt sich die wirkliche Geschichte eines Schriftstücks oft nur mit Glück – wenn etwa die Gestapo als Schenkerin im Zugangsbuch eingetragen ist oder in einer Widmung der Name eines jüdischen Emigranten auftaucht.

Hinweise auf Besitzer fehlen

In diesen Fällen fahndet Circovius-Ratzlaff nach den ursprünglichen Besitzern der Bücher – und nimmt im Idealfall Kontakt mit dessen Erben oder Verwandten auf. So wie im Fall des Hamburger Juden Emil Netter: Dessen Großnichte nahm bei der Eröffnung der Ausstellung in Hamburg die Bücher an sich, die ihrem Großonkel vor mehr als 70 Jahren vom Staat geraubt wurden: Versöhnlicher Abschluss dieses Kapitels der NS-Geschichte, doch auch ein äußerst seltener Glücksfall.

Denn in den meisten Fällen fehlen Hinweise auf die ursprünglichen Besitzer geraubter Bücher. Etwa 30.000 solcher Schriftstücke befanden sich 1944 in der Bibliothek, wissen die Hamburger Experten. "Aber etliche davon werden wir wohl nie ausmachen können", so Maria Kesting von der Staatsbibliothek. "Damit müssen wir uns leider abfinden."

"Im Ganzen sehr erwünscht" NS-Raubgut in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, bis 1. Juli


http://www.welt.de/kultur/history/article106325082/Hamburg-erwarb-enteignete-Bibliotheken-im-Ganzen.html
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