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Symposium "NS-Raubgut in hessischen Bibliotheken“ an Gießener Universität

1998
1970
1945
Giessener Anzeiger 29 January 2013

GIESSEN (olz). „Die deutschen Bibliotheken haben sich erst sehr spät mit ihrer Geschichte in der NS-Zeit befasst. Bis in die neunziger Jahre gab es nur wenige Studien, die sich mit nationalsozialistischem Raub- und Beutegut auseinandersetzten“, sagte Dr. Axel Halle, geschäftsführender Vorsitz des Landesverbandes Hessen im Deutschen Bibliotheksverband. Gemeinsam mit Universitätsbibliotheksdirektor Dr. Peter Reuter eröffnete er das Symposium „NS-Raubgut in hessischen Bibliotheken“, zu dem rund 50 Teilnehmer ins Alexander-von-Humboldt-Haus der Justus-Liebig-Universität gekommen waren.

Diese Zurückhaltung der Bibliotheken, auf die Halle gleich zu Beginn seines Grußwortes hinwies, sei umso erstaunlicher, da sich in den geraubten und den Bibliotheken zugeführten Büchern häufig Besitzvermerke fänden. 1999 hätte jedoch schließlich die Bundesregierung mit den Landesregierungen und den kommunalen Spitzenverbänden eine gemeinsame Erklärung verfasst, die die Bibliotheken auffordert, in ihren Beständen nach Raubgut zu suchen. Auch in Hessen sei dabei mittlerweile einiges erreicht worden, doch lägen längst nicht alle Fakten auf dem Tisch, so der leitende Direktor der Universitätsbibliothek Kassel. „Der Deutsche Bibliotheksverband und der Landesverband betrachten es daher als wichtige Aufgabe, sich diesem Thema zu stellen“, erklärte Halle. Der Verband begrüße ausdrücklich Initiativen zur Auffindung von nationalsozialistischem Raubgut. Zuvor hatte Reuter bereits auf die entsprechende Situation in Gießen hingewiesen, wo dieses Kapitel mit dem Ziel der Restitution aufgearbeitet wird. Schon seit September 2012 sind die bislang erzielten Ergebnisse in der Ausstellung „Raubgut. Universitätsbibliothek Gießen. Geraubte Bücher aus der NS-Zeit“ in der UB zu sehen.

Tauschaktionen

„Mit dem nationalsozialistischen Raub und der Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen ging die Auslöschung ganzer Kulturen einher“, betonte Reuter. Mit Blick auf das Thema Raubgut seien daher alle Tauschaktionen zwischen Verfolgten und Verfolgern in der Zeit zwischen 1933 und 1945 nicht rechtskräftig. Entweder hätten die Betroffenen ihren Besitz frühzeitig unter Wert abgegeben müssen oder er sei ihnen abgenommen worden. „Weite Teile der Bevölkerung und der Institutionen waren daran beteiligt“, erinnerte der Bibliotheksdirektor zum Auftakt des Vortragsprogramms.

In insgesamt sechs Präsentationen betrachteten Referenten wie Halle, Dr. Bernd Reifenberg von der UB Marburg, Dr. Martin Mayer von der Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain und Reuter die hessische Dimension der Fragestellung. In seinen Ausführungen „Auch 2013: Die Suche nach NS-Raubgut in Bibliotheken und die Arbeit der Koordinierungsstelle Magdeburg“ stellte Dr. Michael Franz, Leiter der „Koordinierungsstelle des Bundes und der Länder für Kulturgutdokumentation und Kulturgutverluste“ unter anderem die Datenbank „Lost Art“ vor. Mit dem Ziel der Restitution stellt sie beispielsweise in Such- und Fundmeldungen Informationen zum Raubgut bereit. „Büchergeschenke der Reichstauschstelle. Legale Erwerbungen oder NS-Raubgut aus ,zweiter Hand‘?“ waren das Thema von Dr. Cornelia Briel von der UB an der TU Berlin. Sie skizzierte das Wirken der Tauschstelle, die bereits 1926 und damit vor der Machtergreifung der Nazis eingerichtet worden war und etwa auch Bücher von den Buchsammelstellen der durch das Dritte Reich annektierten Gebiete verteilte.

 

Auf die heimische Dimension ging schließlich Reuter in seinem Vortrag „Raubgut. Ein dunkles Kapitel aus der 400-jährigen Geschichte der Universitätsbibliothek Gießen“ ein. Er erläuterte die Schwierigkeiten bei der Vorbereitung der aktuellen Ausstellung anlässlich des 400-jährigen Bestehens der Bibliothek, die etwa darin bestünden, dass beim Bombenangriff des Jahres 1944 große Teile des 1904 bezogenen Bibliotheksgebäudes zerstört worden und damit fast alle Akten verbrannt waren. Als Beispiele für die aktive Aneignungspraxis der UB nannte Reuter etwa die Bibliothek der Gewerkschaften, die im Mai 1935 in die Bücherei gebracht wurde, zwei Jahre nach der Auflösung des Gewerkschaftshauses.

Fingierte Schenkung

„Immer hat man dabei versucht den Anschein zu erwecken, dass es sich um legale Erwerbungen handle“, berichtete der Bibliotheksleiter, der als weiteres Exempel die Bibliothek des ehemaligen Gießener Rabbiners Dr. David Sander (1867 bis 1939) nannte. In der Chronik der Universitätsbibliothek tauche sie im Dezember 1941 als fingierte Schenkung des „Reichsbunds Deutsche Familie“ auf, sei jedoch keinesfalls legitim und gerecht erworben worden. In diesem Kontext erinnerte Reuter daran, dass Ehefrau Johanna Sander 1942 nach Theresienstadt deportiert und ihre Tochter Bertha vermutlich im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurde.

Mit Stolpersteinen am ehemaligen Wohnhaus in der Landgrafenstraße 8 erinnert die UB an das Schicksal der Familie, und zudem wurden die legitimen Erben, die anonym bleiben möchten und die Bücher der UB überlassen haben, gefunden. Diesen Bestand und weitere Gießener Untersuchungsergebnisse stellte Reuter vor, bevor Dr. Olaf Schneider, Claudia Martin-Konle und Manuel Emmerich die Gäste durch die noch bis zum 15. Februar laufende Ausstellung „Raubgut“ führten.


http://www.giessener-anzeiger.de/lokales/hochschule/12787209.htm
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