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Wir werden die Kunstgeschichte umschreiben müssen - We will have to rewrite art history

1998
1970
1945
Frankfurter Allgemeine 3 December 2013

Der Fall Gurlitt ist eine Herausforderung an die Museen: Aufgetaucht sind Bilder von Künstlern, deren Werk man von den Nationalsozialisten zerstört glaubte. Das hat enorme Folgen, sagt der Kunsthistoriker Rolf Jessewitsch.

 
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© Kunstmuseum Solingen Vergrößern Bevor er floh, stellte Eric Isenburger 1933 noch bei Wolfgang Gurlitt aus: „Jüdisches Mädchen“ (um 1926/30)

Entartete Kunst“, „Kulturbolschewistische Bilder“, „Schandausstellungen“ – kein deutsches Museum hat den Bildersturm der Nationalsozialisten gegen die Moderne so dezidiert und konsequent zu einem Programm der kritischen Aufarbeitung und Rehabilitierung gewendet wie das Kunstmuseum Solingen. 1999 hat es erstmals die Sammlung Gerhard Schneider gezeigt, die Werke verfemter Künstler aus der Versenkung holt und vor dem Vergessen bewahrt. 2004 wurde in Solingen die „Bürgerstiftung für verfemte Künstler mit der Sammlung Gerhard Schneider“ gegründet, die seitdem viele Ausstellungen veranstaltet hat. Der Kunsthistoriker Rolf Jessewitsch, Jahrgang 1954, der das als GmbH geführte Museum seit 1996 leitet, sieht den Fall Gurlitt auch als Herausforderung an die Kunstgeschichte, ihre Kriterien und den Wertekanon zu überdenken.

Herr Jessewitsch, wie überrascht waren Sie, der Sie seit vielen Jahren zu der von den Nationalsozialisten als „entartet“ verfemten Kunst recherchieren, als Sie von dem Schwabinger Bilderfund hörten?

Ich war gar nicht überrascht, denn wie alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen, wusste ich, dass es solche Sammlungen mit für uns interessanten Beständen gibt.

Inzwischen wurde der Bestand ja in drei Kategorien geteilt: 590 Werke stehen im Verdacht, Raubkunst zu sein, 390 Werke sollen aus den Beschlagnahmeaktionen „Entartete Kunst“ stammen, und etwa dreihundert Werke werden an Cornelius Gurlitt zurückgegeben, weil sie Eigentum der Familie sind oder sein Vater, Hildebrand Gurlitt, sie vor 1933 erworben hat.

Diese Einteilung ist zu einfach. Denn wir wissen, dass innerhalb der Familie, vor allem zwischen Hildebrand Gurlitt, der in Hamburg, und seinem Vetter Wolfgang Gurlitt, der in Berlin eine Galerie hatte, ständig Werke verschoben wurden. Das ist schwer durchschaubar. Doch nicht alle Erwerbungen der Gurlitts nach 1933 waren unrechtmäßig. So hat Wolfgang Gurlitt Anfang 1933 die erste Einzelausstellung von Eric Isenburger gezeigt. Isenburger, der mit Pierre Bonnard, auch mit Max Ernst befreundet war, stand schon auf einer schwarzen Liste der Nazis, Gurlitt erfuhr davon und riet ihm und seiner Frau, die – wie übrigens auch die Frau von Hildebrand Gurlitt – Tänzerin bei Mary Wigman war, nach Paris zu gehen, von wo beide dann in die Vereinigten Staaten emigriert sind. Nach dem Krieg ist Isenburger nach Deutschland zurückgekehrt und hat wieder mit Wolfgang Gurlitt zusammengearbeitet, der ihm 1962 in München eine Einzelausstellung ausrichtete.

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© Christian Beier

Rolf Jessewitsch

Das heißt, dass auch für die Werke, die im „Dritten Reich“ gehandelt wurden, einzeln geklärt werden muss, was rechtmäßig und was unrechtmäßig erworben wurde?

Ja, doch dafür müssten wir die rund 1280 Werke erst einmal kennen, bisher wurden nur 219 von ihnen ins Internet gestellt.

Wir kennen auch die Liste des Collecting Point in Wiesbaden aus dem Jahr 1945 mit den 160 Werken, die die Amerikaner 1950 an Hildebrand Gurlitt zurückgegeben haben.

Bleiben fast tausend, die noch nicht bekannt sind. Nicht geklärt ist bisher auch, wo die Kunstwerke, die nicht auf der Liste des Collecting Point stehen, im Krieg versteckt waren und wie Gurlitt sie an den Amerikanern vorbeischleusen konnte. Denn dass nach 1945 noch viele Werke dazukamen, ist nicht anzunehmen.

Fast tausend bisher verschollene Werke von wie vielen insgesamt?

Die Forschungsstelle „Entartete Kunst“ an der Freien Universität Berlin geht von mehr als 20.000 Bildern aus, die von den Nazis aus den Museen geholt wurden. Tausend bis tausendfünfhundert gingen in den Kunsthandel, zehntausend sollen vernichtet worden sein.

Es muss also noch andere Sammlungen geben, die nicht entdeckt oder öffentlich gemacht wurden?

Die Dunkelziffer ist enorm. Wir sprechen bisher nur über Werke aus öffentlichem Besitz. Die Nazis haben aber auch Bilder aus Ateliers und aus Privatbesitz konfisziert. Wir reden immer nur von den Bildern, die wiederauftauchen, nicht von denen, die weg sind. Die „Säuberung“ traf beispielsweise auch die ab- strakten Expressionisten, die erst am Beginn ihrer Karriere standen und oft noch gar keinen Namen hatten.

Und die bis heute verschwunden sind?

Zum Beispiel Oscar Zügel, der mit Léger und Chagall, mit Willi Baumeister und Josef und Anni Albers befreundet war. Gleich 1933 gab es zwei Anzeigen der Nazis gegen ihn, seine Ausstellung im Essener Folkwang-Museum wurde abgehängt, die Bilder sollten im Hof der Staatsgalerie Stuttgart verbrannt werden. Zügel ist erst nach Spanien emigriert, von wo er, als Franco an die Macht kam, noch mal zurückkehrte, und dann nach Argentinien geflohen. Als er nach dem Krieg wieder nach Stuttgart kam, stand dort die Kiste mit seinen Bildern im Keller, ein Kurator hatte sie in Sicherheit gebracht. In der Ausstellung „Pittori Europei“ 1951 in Florenz hängt Zügel neben Schwitters, Picasso, Kandinsky, Miró, Archipenko und anderen. In Deutschland dagegen wurde er, als er Anfang der fünfziger Jahre in der Staatsgalerie Stuttgart wegen einer Ausstellung vorsprach, mit dem Verdikt „Sie sind doch Republikflüchtling, an Ihnen haben wir kein Interesse“ weiter abgelehnt.

Die ältere Generation wurde diffamiert, die jüngere liquidiert?

Schauen Sie sich an, welche Künstler 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, auf der Documenta 1 in Kassel rehabilitiert wurden. Das waren die „Brücke“-Maler.

Auf der Documenta 2 waren es 1959 schon mehr.

Es gab auch ältere Künstler, deren Existenz von den Nazis vernichtet wurde. Etwa Milly Steger...

...die Karl Ernst Osthaus 1910 als Stadtbildhauerin nach Hagen holte...

...und die Mitte der zwanziger Jahre Deutschlands bedeutendste Bildhauerin war. 1935 haben die Nazis verlangt, dass Milly Steger aus Friedenthals Lexikon herausgenommen und nicht mehr erwähnt wird. Das hat funktioniert. Heute kennt sie kaum mehr jemand. In München, Hamburg und Berlin haben die Museen Werke von ihr, aber wenn ich meinen Kollegen dort sage, dass sie die doch mal zeigen sollen, heißt es: „Die kennt ja keiner.“

Sie haben gerade eine Ausstellung von Paul Kleinschmidt gezeigt.

Auch ein gutes Beispiel. Kleinschmidt war in Berlin sehr beliebt. Julius Meier-Graefe hat ihn geschätzt, schon 1932 musste Kleinschmidt die Stadt verlassen, später ist er über die Niederlande nach Südfrankreich geflohen. 1937 hat ihn eine Ausstellung in Harvard zusammen mit Max Beckmann und George Grosz gezeigt.

Rechnen Sie damit, dass sich in der Sammlung Gurlitt Werke von diesen vergessenen Künstlern befinden?

Ein Bild von Bernhard Kretschmar, der völlig verschwunden war, hat es ja schon in die Tagesschau geschafft. Für Leute, die sich mit der Zeit beschäftigen, ist er kein Unbekannter, im heutigen Kunstbetrieb aber ist er kein Thema.

Muss die Kunstgeschichte, wenn der Fund aufgearbeitet ist, umgeschrieben werden?

Ja, sie muss korrigiert werden. Die Sammlung Gurlitt wird kein Einzelfall bleiben.

Mit der Lücke haben sich die Wertungen verschoben?

Wenn mehr als 20.000 Bilder von der Wand geholt werden, nehmen andere Bilder ihren Platz ein. Das spricht nicht unbedingt gegen die anderen. Aber was abgehängt wurde, wird nicht mehr beachtet.

Die Lücke wird bleiben.

Wir können diese schmerzliche Lücke nicht mehr schließen, aber wir können uns bemühen, den Verlust aufzuarbeiten, und darauf hinweisen, was diese Künstler an Innovationen hätten einbringen können und was ihr Potential ausmacht. Mit der Sammlung Gerhard Schneider, aus der das Kunstmuseum Solingen fünfhundert Werke übernehmen konnte, waren wir damit bisher ziemlich auf uns allein gestellt.

 

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