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Gurlitts Werke aus Museen sollten als Dokument zusammenbleiben - Gurlitt's works from museums should stay together as a record

1998
1970
1945
Handelsblatt 19 December 2013
von Michael Zajonz

Andreas Hüneke ist der Nestor der Forschung zur „Entarteten Kunst“. Das Handelsblatt traf ihn zum Gespräch über die Lage der Provenienzforschung und den Fall Gurlitt. Wahrscheinlich tauchen weitere geheim gehaltene Sammlungen auf.


Andreas Hüneke, Kunsthistoriker, und Meike Hoffmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am FU Institut für Geschichte und Kunsthistorik, Forschungsstelle "entartete Kunst" in Berlin Zehlendorf Quelle: Sabeth Stickforth

Berlin: Michael Zajonz: Herr Hüneke, in den Diskussionen der letzten Wochen purzelten die Begriffe wild durcheinander: Beutekunst, Raubkunst, verfolgungsbedingt entzogene Kunst, Entartete Kunst. Ich würde von Ihnen gern die Unterschiede zwischen Provenienzforschung und dem, was Sie betreiben, der Forschung zur entarteten Kunst, erfahren.

Andreas Hüneke: In gewisser Weise ist es auch Provenienzforschung, was wir betreiben, wobei wir normalerweise in die andere Richtung gehen. Provenienz heißt ja, wo es herkommt. Wir gehen hingegen davon aus, wo es gewesen ist, und versuchen herauszubekommen, wo es heute ist. Die Entartete Kunst bezeichnet das, was 1937 in deutschen Museen beschlagnahmt worden ist. Dazu ist 1938 auch das Gesetz erlassen worden. Es wird immer wieder einmal fälschlich behauptet, dieses Gesetz wäre auch für die Beschlagnahme von Privatbesitz ursächlich. Im Gesetz steht jedoch ausdrücklich, dass es sich um diejenigen Werke handelt, die 1937 in den Museen beschlagnahmt worden sind. Für alles andere gilt es nicht. Die Werke sind den Museen damals entschädigungslos entzogen worden und nach Möglichkeit über den Kunsthandel verkauft worden. Dieser Eigentumswechsel hat aufgrund eines Rechtsvorgangs stattgefunden und ist  bis heute rechtmäßig.

Ihre Motivation als Forscher ist also eine ganz andere: Es geht nicht darum, Nachkommen oder Erben Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern einen historischen Vorgang zu rekonstruieren?

Es geht darum, Sammlungsgeschichte aufzuarbeiten und Forschungen zum Werk einzelner Künstler zu befördern. 

Wie sind Sie denn persönlich zur Forschung über Entartete Kunst gekommen?

Ich habe mich schon als  Jüngling für die Moderne interessiert, die damals in der DDR noch etwas scheel angesehen wurde. Die Stalinzeit mit ihren Frontalangriffen war zwar vorüber, aber so richtig gern sah man das immer noch nicht. Zu den wenigen Museen, wo Werke der Moderne zu sehen waren, gehörte neben der Ost-Berliner Nationalgalerie die Moritzburg in Halle. Als die dann zu meiner ersten Arbeitsstelle wurde, hat mich interessiert, was dort früher für eine Sammlung gewesen ist. Das wussten die selbst nicht so genau, also fing ich an, danach zu forschen. Im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam gab es die Unterlagen des Reichspropagandaministeriums zur Aktion „Entartete Kunst“. Da habe ich mich nicht nur auf Halle beschränkt, sondern andere Sammlungen mitbearbeitet.

Sie gehören damit zu den Pionieren dieses Forschungsthemas. Wie hat sich die Forschung zur Entarteten Kunst in den letzten Jahrzehnten methodisch entwickelt?

Die Entwicklung verlief in Schüben. 1987 war ein wesentlicher Anstoß der 50. Jahrestag der Beschlagnahmeaktion. Damals haben mehrere Museen ihre Bestände erstmals dazu erforscht. Es gab die erste noch unvollständige Rekonstruktion der Münchner Ausstellung von 1937 durch Mario-Andreas von Lüttichau und mich. Dann hat die Entdeckung der vollständigen Beschlagnahmeliste – der zweite Band fehlte bis dahin – 1997 einen gewaltigen Schub verursacht. In dessen Folge entstand die Idee, die Forschungsstelle in Berlin zu gründen, finanziert durch die Ferdinand-Möller-Stiftung. Seitdem ist sehr viel mehr passiert, als es im Alleingang möglich gewesen wäre. Wir haben Themen für Abschlussarbeiten vergeben. So konnten wir Dinge überprüft lassen, die lange in der Forschung immer wieder von irgendwoher übernommen und behauptet worden sind, ohne dass es Nachweise dafür gab: zum Beispiel die Preisentwicklung. Da wurde lange behauptet, die Entartete Kunst sei generell verschleudert worden. Niemand wusste, wie es wirklich gewesen ist. Inzwischen gibt es eine Dissertation von Gesa Jeuthe über die Preisentwicklung der deutschen Kunst auf dem internationalen Markt 1925-1955. Das ist eine Kunsthistorikerin, die im Zweitfach Betriebswirtschaftslehre studiert hat und sich in die statistischen Methoden eingearbeitet hat.

Bewusstsein schärfen

Das Schärfen des Bewusstseins für Werke, die privaten Sammlern entzogen worden sind aufgrund von politischer oder rassischer Verfolgung, wirkt in gewisser Weise auch auf unsere Forschungen zurück. Es gibt kleinere Überschneidungen, etwa da, wo Werke aus solchen Sammlungen ab 1933 in die Museen gelangten und dann 1937 in der Aktion „Entartete Kunst“ wiederum beschlagnahmt und ausgesondert worden sind. Das sind Werke, die von Museen erworben wurden oder auf andere Weise ins Museum gelangten. Am bekanntesten sind Werke aus der Sammlung Littmann, einem Breslauer jüdischen Rechtsanwalt, die 1935 im Auktionshaus Perl von der Gestapo beschlagnahmt und an die Nationalgalerie überwiesen worden sind. Die Experten der Nationalgalerie sollten entscheiden, welche Werke als historische Belege erhalten werden sollten, der Rest ist dann vernichtet worden. Die aufbewahrten Werke sind 1937 beschlagnahmt und verwertet worden, als wären sie Besitz der Nationalgalerie – was sie nicht gewesen sind. Einige dieser Werke sind inzwischen an die Erben restituiert worden.

Bei der Provenienzforschung, wie sie seit einigen Jahren an den Museen und durch die Arbeitsstelle in Berlin, die die Fördermittel vergibt, betrieben wird, geht es um die Werke, die seit 1933 und bis in die Nachkriegszeit hinein von den Museen erworben worden sind, bei denen die Möglichkeit besteht, dass sie aus solchen Sammlungen stammen.

Der nationalsozialistische Führer Adolf Hitler (r) und der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels (M), besuchen 1937 die Ausstellung "Entartete Kunst" im Münchner Haus der Kunst. Quelle: dpa

Was macht die Forschung zur Entarteten Kunst, die notwendigerweise immer auch die Identifizierung von Einzelwerken beinhaltet, so besonders kompliziert und schwierig?

Ein Problem ist, dass die Inventarisierung in den Museen damals nicht denselben Standards entsprach wie heute und noch nicht so viel fotografiert wurde wie heute. Bei Gemälden ist sie meist schon sehr sorgfältig, obwohl mir auch Fälle bekannt sind, wo Gemälde nicht inventarisiert worden sind. Bei Papierarbeiten kommt das häufiger vor. Von einigen Museen sind die Unterlagen im Krieg zerstört worden. Im Beschlagnahmeverzeichnis von 1937 sind nur die Nachnamen der Künstler angegeben, die Titel oft nur nach Augenschein, wenn der Titel nicht hinten groß drauf stand.

Das waren nicht die Kustoden der Museen, die das erfasst haben?

Nein, das war Rolf Hetsch, ein Kunsthistoriker, der beim Propagandaministerium angestellt gewesen ist. Und bei 20.000 Werken, die man innerhalb weniger Wochen verzeichnen musste, blieb nicht viel Zeit. Auch die Techniken sind sehr ungenau angegeben, z.B. heißt es dann bloß Gemälde, Plastik oder Druckgrafik. Manchmal sogar Holzschnitt oder Lithografie, aber auch da gab es Irrtümer: Zeichnungen, die er für Lithos hielt oder umgekehrt.

Am hilfreichsten für die Identifikation heute sind historische Fotos, sei es aus Ausstellungen, wo Werke zu sehen sind, sei es aus den Museen. Da taucht immer mal wieder ein neues Fotodokument auf, mit dem man einzelne Werke identifizieren kann.

In etlichen Museen fehlen die Unterlagen zur Aktion „Entartete Kunst“ komplett, meistens im Krieg zerstört. Außerdem verfügen die meisten Museen über kein von einem Archivar betreutes Archiv, die Aktenpflege lief und läuft oft nebenbei. Bei Personalwechseln wurden die Akten irgendwo abgelegt und gingen so verloren. Inzwischen machen sich zum Glück doch einige Museen daran, ihre eigene Geschichte systematischer aufzuarbeiten.

Können Sie denn mit der Expertise und Manpower der Forschungsstelle den Museen hier etwas unter die Arme greifen?

Das machen wir zuweilen auch. Es gibt die Möglichkeit, ein gemeinsames Projekt zu starten, wie wir es zusammen mit dem Kunstmuseum Düsseldorf gemacht haben als Sonderprojekt, gefördert von der Gerda-Henkel-Stiftung. Da haben wir den ehemaligen Bestand aufgearbeitet. Bei kleineren Sammlungen gibt es auch die Möglichkeit, eine Abschlussarbeit zu dem Thema zu vergeben. Aus dem Museum muss natürlich die Bereitschaft da sein, das zu unterstützen.

Hat sich bei den Museen zu diesem Thema in den letzten Jahren ein spürbarer Kulturwandel vollzogen?

Ja. Dennoch bleibt kritisch, was ich bereits ansprach: die Archivsituation. Es ist nicht so, dass man auf einen geordneten Aktenbestand zurückgreifen kann, sondern man muss alles durcharbeiten. Da muss ein Vertrauensverhältnis da sein, deshalb versuchen wir das zu realisieren mit Studierenden, die zuvor vielleicht schon mal ein Praktikum in dem betreffenden Museum gemacht haben und dort bekannt sind. Auf Museumsseite darf man kein Misstrauen hegen, sondern muss vielmehr darauf vertrauen, dass hier sorgfältig und verantwortungsbewusst geforscht wird. 

Lassen Sie uns auf den Fall Gurlitt zu sprechen kommen. Haben Sie einen Überblick, wie viele Werke der Entarteten Kunst jetzt beschlagnahmt worden sind und was wird damit passieren?

Ich nenne Zahlen immer sehr ungern, weil ich weiß, wie wenig verlässlich so etwas ist. Bei der Beschlagnahmeaktion 1937 haben sich beispielsweise die Zahlen im Lauf der Jahre stark erhöht. Die Nummern der Liste gehen bis etwas über 16.500. Ich habe dann schon von 17.000 geredet, weil Konvolute dabei waren. Und dann bin ich auf 17.500 gegangen, bis 20.000, wo ich schon dachte, das sei ungeheuer kühn. Nun sind wir längst über die 20.000 hinweg. Zahlen sind immer schwierig.

Bei Gurlitt wird es immer weniger, vor allem auch der Preis wird deutlich niedriger. Ich finde es wichtig darauf hinzuweisen: Es handelt sich nicht um die Milliarde Euro, die da herumgeistert und eine absurde Größenordnung ist. Das hat jemand hochgerechnet anhand der anfangs erwähnten 1500 Werke und der Namen, die in den ersten Meldungen genannt wurden: Matisse, Franz Marc und dann 1500 Gemälde dieser Kategorie. Aber es sind ja nur ein paar Gemälde und viele Papierarbeiten. Von diesen berühmten Künstlern sind es eben nur einzelne Arbeiten, das Meiste ist von weniger berühmten.

Ich bin damit nicht befasst, das macht Meike Hoffmann. Ich habe mich auch deswegen rausgehalten, weil ich finde – das gehört eben auch zur Forschung –, dass man Geduld hat und die Dinge abwartet.

Nun hat sich aber eine Dynamik ergeben, die kein reines Medienphänomen mehr ist. Es melden sich Erben, Institutionen, Anwälte und es geht nicht nur um verfolgungsbedingt entzogene Werke, sondern auch um solche der Entarteten Kunst …

Aber es steht eben noch keine Zahl fest – so viel weiß ich. Ein Teil ist eindeutig identifiziert, etwa dort, wo sich die Inventarnummern erhalten haben, die die Nazis vergeben haben. Oder wo Museumsstempel drauf sind. Da kann man eindeutig sagen: Das stammt aus der Aktion „Entartete Kunst“. Es gibt aber eine Reihe von Arbeiten, Druckgrafiken, Zeichnungen, wo Titel in der Liste des Beschlagnahmten vorkommen, aber es gibt keinen Beweis, dass es wirklich die 1937 beschlagnahmten Exemplare sind, die sich dort bei Gurlitt wiederfinden. Es könnten auch andere Exemplare sein. Das muss weiter erforscht werden. Ob man da zu einem Ende kommen wird, weiß ich nicht. Aber auf jeden Fall wird man weiter kommen. Das braucht seine Zeit.

Wagen Sie eine Prognose, was mit den zweifelsfrei aus der Aktion „Entartete Kunst“ stammenden Arbeiten geschehen wird?

Was in der Berichterstattung über den Fall weitgehend aus dem Blick gerät, ist die Tatsache, dass es sich hier um eine Privatsammlung handelt. Juristisch ist es bei den Werken der Entarteten Kunst keinesfalls so, wie es Peter Raue, den ich ansonsten sehr schätze, erklärt hat: Es gibt Kauf- und Tauschverträge mit Hildebrand Gurlitt, wonach diese Werke in sein Eigentum übergegangen sind. Er hat sie erworben und sie gehörten ihm bzw. jetzt seinem Sohn. Eigentlich sogar die Werke, die verfolgungsbedingt entzogen worden sind, da die Washingtoner Erklärung sowie die gemeinsame Erklärung von Bund und Ländern nur für öffentliche Einrichtungen gilt. Die können ja keine Versprechen für Privatleute abgeben. Privatleute sind nicht daran gebunden, mit Privatleuten kann man natürlich verhandeln – und offensichtlich ist Gurlitt ja gar nicht unzugänglich in dieser Hinsicht, wie die Einigung mit den Flechtheim-Erben bei der Beckmann-Gouache gezeigt hat. Das ist die Ausgangsposition.

Dann gibt es Werke in der Sammlung, die weder mit dem einen noch mit dem anderen zu tun haben, sondern die einfach in einer Familie, die seit Generationen aus Kunsthändlern, Kunsthistorikern und Künstlern besteht, vorhanden sind.

Ich hätte die Vorstellung und den Wunsch, dass dieser Bestand, was die Werke der Entarteten Kunst betrifft, genauso zusammenbleibt wie der Nachlass von Böhmer, der sich heute in Rostock im Museum befindet. Das sollte als Dokument dieser Ereignisse erhalten werden – wo auch immer. Die Sammlung gehört natürlich Cornelius Gurlitt, aber meine Zielvorstellung ist, dass diese Kunst in öffentlichen Besitz gelangt oder zumindest öffentlich zugänglich gemacht wird. Ich halte es nicht für erstrebenswert, es jetzt Stück für Stück den Museen zurückzugeben, weil es wohl keine Werke sind, die einen wirklichen Bedeutungszuwachs der jeweiligen Sammlung ausmachen würden. 

Sie stehen also dem Rat mancher Juristen an die Museen, jetzt auf Herausgabe zu klagen, skeptisch gegenüber?

Dem stehe ich ganz skeptisch gegenüber. Es ist ein wenig ein Schönheitsfehler, dass man sich immer auf das Gesetz von 1938 beruft, über das die Leute sagen: Dieses Nazi-Gesetz gehört doch abgeschafft. Aber man hat das nach dem Krieg aus guten Gründen nicht aufgehoben, weil man einerseits den Erwerbern der Werke Rechtssicherheit geben wollte – das war sicher auch ein wichtiger Grund –, aber der andere Grund war, dass  die Wiedergutmachungsgesetze nach dem Krieg vor allem für rassisch und politisch Verfolgte erlassen worden sind. Das sind ja die Museen nicht gewesen, die Museen gehörten eben zu diesem Staat, der das Unrecht verursacht hat.

Die Zielvorstellung, alle 1937 aus öffentlichem Besitz beschlagnahmte Kunst konsequent wieder an den Ursprungsort zurückzuführen und damit die Wunde so zu schließen, als wäre nichts gewesen, finde ich einfach falsch. Das ist passiert, und daran müssen wir auch ein bisschen leiden – bis heute. Wenn man ein besonderes Werk unbedingt zurückhaben möchte, dann muss man eben dafür bezahlen.

Max Beckmanns "Löwenbändiger" konnte im November 2012 im Einverständnis mit den Erben des jüdischen Vorbesitzers bei Lempertz versteigert werden. Quelle: Reuters

Sie betonen die Mitverantwortung der Museen. Welche Mitverantwortung trägt denn der Kunsthandel jenseits der vier bekannten Namen?

Das ist ein schwieriges Problem. 1938 wurde das Gesetz zur Entarteten Kunst beschlossen und damit war der Handel damit legalisiert. Problematischer ist der Handel mit enteignetem Privatbesitz der Verfolgten, die unter Zwang veräußern mussten. Da war der Kunsthandel Mithelfer. Heute beurteilt man das eindeutig als Verfehlung. Damals waren sogar jüdische Kunsthändler beteiligt an sogenannten Judenauktionen, bei denen Emigranten ihren Kunstbesitz anbieten mussten, um die Reichsfluchtsteuer zu bezahlen. Ich finde den Versuch richtig, von Privatleuten geraubte Kunstwerke zurückzugeben, wann immer das möglich ist. Ich finde es nicht richtig, pauschal alle, die daran beteiligt waren, grundsätzlich zu verurteilen. 

Dann stelle ich die Frage anders: Welche Verantwortung trägt der Kunsthandel heute, sich seiner eigenen Geschichte zu stellen, etwa bei Provenienzangaben?

Ein Bewusstsein für diese Problematik gibt es allgemein noch nicht sehr lang. Früher war eine Provenienz wie Sammlung Hess, Erfurt, eine Nobilitierung des Werkes, heute ist es das Gegenteil. Das Wissen um die Verstrickung des Kunsthandels hat sich erst nach und nach in den Köpfen durchgesetzt. Auch das ist ein Grund, warum ich vorsichtig mit meinen Urteilen bin. Man muss jeden Fall einzeln untersuchen, um sagen zu können, ob fahrlässig gehandelt wurde oder ob man den Wissensstand ausgeschöpft hat. 

Forschung ist ein dynamischer Prozess. Viele Erkenntnisse und damit verbundene moralische Bewertungen von heute dürften durch nachfolgende Generationen anders gewichtet werden …

Vieles ist noch nicht erforscht. Bei allem, was ich gegen die Hektik und Hysterie einzuwenden habe, die im Fall Gurlitt entstanden ist, bringt so etwas die Sache natürlich auch voran. Indem eine größere Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, erhöht sich der Druck, dass von staatlicher Seite mehr Geld für Forschungen bereitgestellt werden muss. Bislang sind die nötigen Forschungen von staatlicher Seite nicht gerade prononciert vorangetrieben worden.

Ich selbst habe meine Forschungen, bevor die Forschungsstelle entstand, eigentlich lebenslang selbst finanziert – bis auf eine ganz kurze Zeit. Die Forschungsstelle wurde vorübergehend durch die private Gerda-Henkel-Stiftung mitfinanziert und wird jetzt zu 100 Prozent durch die ebenfalls private Ferdinand-Möller-Stiftung getragen. Jetzt ist der Bund seit ein paar Jahren mit der Provenienzforschungsstelle mit im Boot, aber es könnte noch deutlich mehr passieren. 

Momentan ist – Stichwort task force – ein gewisser staatlicher Aktionismus zu verzeichnen. Erwarten Sie durch den Fall Gurlitt konkret für Ihren Forschungsschwerpunkt neue Impulse inhaltlicher oder strukturell-finanzieller Art?

Für den Bereich der Entarteten Kunst sicher nur nebenbei. Für die allgemeine Forschung zu Hildebrand Gurlitt wird das inhaltlich sicher der Fall sein. Bei der task force geht es ja ausgesprochen um die Erforschung dieses Bestandes. Was die Gurlitt-Forschung allgemein voranbringen wird, sind verschiedene Dokumente, die nun wieder aufgetaucht sind, etwa die Geschäftsbücher. Wobei sich auch hier die Frage ergibt: Inwieweit darf man Geschäftsbücher, die sich in Privatbesitz befinden, öffentlich nutzen?

Abgesehen von den bei Cornelius Gurlitt beschlagnahmten haben wir in letzter Zeit noch andere Dokumente zu Hildebrand Gurlitt auftreiben können: Geschäftskorrespondenz aus dem Jahren 1944/45.

Medienaufgebot vor dem Haus, in dem sich die Wohnung des Sammlers Cornelius Gurlitt befindet. Quelle: dpa

Hätte man nicht schon da ahnen können, dass die Version der Familie, alles sei im Februar 1945 verbrannt, nicht stimmen kann?

Wenn so etwas behauptet wird, muss das nicht in jedem Fall eine bewusste Lüge sein. Auch von vielen Künstlern kennt man die Aussage, dass das gesamte Frühwerk vernichtet wurde. Wenn man genau hinschaut, tauchen oft doch entsprechende Werke auf. Es existiert doch immer irgendwo was. Es kann aber immer auch sein, dass etwas nach dem Krieg bewusst verschwiegen wurde. 

Dass heißt, Sie wurden genauso überrascht vom Gurlitt-Fund wie die nichtsahnende Öffentlichkeit?

Ich war überrascht, aber andererseits rechne ich immer mit unerwarteten Funden. . Es gibt nie die Möglichkeit vorauszusagen, was wann wo auftauchen könnte, sondern es taucht immer mal irgendetwas auf, was die Forschung voranbringt. 

Sie plädieren jenseits der Betroffenen, die jetzt Bilder wiedererkennen, die ihren Vorfahren gehört haben könnten, für eine größere Gelassenheit im Umgang mit dem Fund?

Man bemüht sich jetzt deutlich, diesem Verlangen gerecht zu werden. Aber man kann eben auch in Fällen, hinter denen ein furchtbares und unvergleichliches Verbrechen steht, nicht einem Unrecht mit einem anderen begegnen. Ich weiß nicht, was sich Leute denken, wenn sie verlangen, dass alle Werke des Gurlitt-Fundes veröffentlicht werden müssen? Das finde ich nicht verhältnismäßig. Wenn schon in diesem Privatbesitz von außen geforscht wird, ohne dass der Besitzer dazu aufgefordert hat, dann muss man darauf bestehen, dass nur die Werke herausgefiltert werden, bei denen ein solcher Verdacht besteht, und der Rest nicht an die Öffentlichkeit gebracht wird. Da kursiert dieser angebliche Wert von einer Milliarde, in der Zeitung kann man sich anschauen, wie das Haus in Schwabing aussieht, und es heißt, es gehe ein Drittel der Sammlung wieder an den Eigentümer zurück. Alle wissen aus den Artikeln, dass der offensichtlich hilflos ist. Das ist wie eine Aufforderung. 

Können Justiz und Öffentlichkeit daraus etwas für mögliche künftige Überraschungen dieser Art lernen?

So etwas wird es nicht noch einmal geben. Bei den anderen drei 1937 beauftragten Kunsthändlern ist es anders gelaufen: Bei Böhmer haben wir den Nachlass, Möller hatte nach 1945 weiter eine Galerie und hat verkauft, Buchholz ist nach Südamerika ausgewandert und hatte nur kleine Bestände aus der Entarteten Kunst mit dabei. Da wird es Vergleichbares nicht geben. Was es geben wird, ist das Auftauchen einzelner Werke. 

Oder, siehe den Berliner Skulpturenfund, kleinere Konvolute ohne diese stark persönliche Komponente …

Ich habe diesen Fund nicht als solchen Glücksfall angesehen. Ein Glücksfall wäre es gewesen, wenn die Skulpturen heil geblieben wären. Aber es ist natürlich ein aufschlussreicher Fakt, auch sehr eindrücklich in der Versehrtheit. Es könnten natürlich irgendwann noch andere solcher Lagerstätten auftauchen. 

Könnten Sie das grob beziffern, wie hoch die Zahl weißer Flecken innerhalb der 20.000 im Jahr 1937 beschlagnahmten Arbeiten ist?

Ungefähr ein Viertel, wo es keine Spuren gibt oder Spuren, die darauf schließen lassen, dass es noch existieren könnte. Ein größerer Posten neben Kriegszerstörungen könnte  Beutekunst sein, die von den Siegermächten oder von einzelnen Soldaten mitgenommen wurde. 

Schlussfrage: Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung zu diesem Thema?

Meine Hoffnung geht dahin, dass sich die Regierung nicht in Panik versetzen lässt und aufgrund dieser Panik Dinge beschließt, ohne sie gründlich zu überlegen. Es ist durchgesickert, dass es in Regierungskreisen Stimmen gibt, die die Frage der Entarteten Kunst neu aufrollen wollen. Ich würde es für höchst fatal halten, wenn man sich dazu hinreißen lässt, das Gesetz von 1938 aufzuheben ohne dem etwas entgegenzusetzen und damit weltweit das gesamte Museums- und Sammlungsgefüge weiter ins Wanken bringt.

Es gilt als politisch nicht korrekt, wenn man einen Schlussstrich fordert. Aber an einigen Stellen muss man einen Schlussstrich ziehen und dazu gehört in jedem Fall die Diskussion um die Rückführung von Werken aus der Aktion „Entartete Kunst“. Es muss eine Sicherheit geben für die jetzigen Besitzer.

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