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Bremens verschollenes Recht wiederaufgetaucht - Bremen's long-lost code resurfaced

1998
1970
1945
Die Welt 26 May 2014
Von Sven Felix Kellerhoff

Ein Vierteljahrtausend lang wurde die "kundige Rolle" jährlich in der Hansestadt öffentlich verlesen. Seit 1945 war sie verschollen. Jetzt gab eine Händlerin in den USA das unschätzbare Stück zurück.


Die "kundige Rolle", eine der wichtigsten Rechtsurkunden der Hansestadt Bremen, ist nach 69 Jahren wiederaufgetaucht und jetzt an das Staatsarchiv Bremen zurückgegeben worden.

Gesetze neigen dazu, mit der Zeit immer länger zu werden. Ausführlicher, genauer, weniger fehlerhaft. In der Hansestadt Bremen ging man mit Erweiterungen des Stadtrechtes sehr pragmatisch um: Seit 1489 wurden sie auf eine Pergamentrolle geschrieben, an die einfach neue Pergamentstücke angenäht wurden, wenn die bisherigen voll waren.

So entstand um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert die "kundige Rolle", eines der wichtigsten Rechtsdokumente Norddeutschlands. Sie ist 15 Zentimeter breit und 693 Zentimeter lang. Seit 1945 war sie verschollen, von vielen bereits verloren gegeben worden. Jetzt ist die Rolle, die eng zusammengerollt etwa das Format einer Halbliter-Weißblechdose hat, wiederaufgetaucht: Bremens Erster Bürgermeister Jens Böhrnsen und Konrad Elmshäuser, der Chef des Staatsarchivs Bremen, präsentierten sie am Montag der Öffentlichkeit.

Insgesamt 225 Artikel umfasst der Text, der 1771 zum ersten Mal gedruckt wurde und in der Ausgabe des mittelalterlichen bremischen Rechts von 1931 genau 32 Druckseiten einnimmt. In mittelniederdeutscher Sprache sind darin die wesentlichen Regeln des Zusammenlebens in der Handelsstadt festgelegt. Von 1489 bis 1756 wurde der gesamte Inhalt der "kundigen Rolle" einmal jährlich vom Bremer Rathaus öffentlich verlesen.

1942 ausgelagert

Erst als nach einem Vierteljahrtausend die dort niedergelegten Regeln in altertümlicher Sprache für die Zuhörer kaum mehr verständlich waren, beendete man diese Tradition. Bis 1909 lag die "kundige Rolle" weiter im Rathaus, dann wurde sie ins neu errichtete Bremer Staatsarchiv verlagert.

Weil aber die Hafenstadt schon früh im Zweiten Weltkrieg Ziel britischer Bombenangriffe wurde, verlagerte man die wertvollsten Bestände zur Stadtgeschichte 1942 in ein Salzbergwerk in Bernburg an der Saale. Tatsächlich wurde das Staatsarchiv am 24. Februar 1945 zerstört.

Die Bestände des Archivs blieben zwar von der Vernichtung verschont und wurden im Frühjahr 1945 von US-Truppen intakt in Bernburg ausgefunden. Nach dem Übergang von Sachsen-Anhalt an die Rote Armee Ende Juni 1945 transportierte man die Bestände, darunter 380 Kisten Archivmaterial aus Bremen und sogar rund 1000 Kisten aus Lübeck, nach Leningrad und Moskau.


Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen und Konrad Elmshäuser vom Staatsarchiv präsentieren im Bremer Rathaus die "kundige Rolle" von 1489

1945 verschollen

Im Laufe der Jahrzehnte, besonders nach der Wiedervereinigung, bekam Bremen große Teile seiner wertvollen stadthistorischen Originale zurück. Doch die "kundige Rolle" blieb verschollen – sie war neben einer Urkunde von Kaiser Barbarossa das wohl wichtigste Dokument. Da es keinerlei Fotografien der Urkunde gab, wusste auch Konrad Elmshäuser, der Leiter des Staatsarchivs Bremen, nicht, wie das vermisste Stück aussah.

Umso überraschter war der Archivar, als er Anfang Mai einen Anruf aus London bekam. Der Mitarbeiter eines großen Auktionshauses teilte ihm mit, dass in den USA eventuell die "kundige Rolle" aufgetaucht sei. Elmshäuser traute seinen Ohren nicht, sagte er der "Welt", und erbat sofort Fotos vom Dokument. Zuerst konnte er feststellen, dass es sich tatsächlich um den Text des gesuchten Dokuments handelte. Aber es hätte auch eine Abschrift sein können. Erst das Einleitungsinitial, das als Faksimile in der ersten Druckausgabe von 1771 enthalten ist, zeigte ihm, dass es sich um das Original handelte.

In den USA befand sich die "kundige Rolle" bei einer Händlerin, die sie ursprünglich für einen "niederländischen Wirtschaftstext" aus der frühen Neuzeit gehalten hatte. Um das genauer zu bestimmen und gezielt auf den Markt bringen zu können, fragte sie ihren Londoner Bekannten. Als Elmshäuser ihr mitteilte, dass es sich um ein wichtiges Dokument handelte, das 1945 verschwunden war, sagte die Händlerin umgehend, mit Raubkunst wolle sie nichts zu tun haben. Das Staatsarchiv bekam das Original gegen Erstattung der Auslagen sicher verpackt zurück.

2014 zurückgegeben

Zum Weg der Urkunde nach 1945 sagte die Händlerin: "No idea!" Da sich die Rolle schon seit Langem in den USA befand, liegt es nahe, dass ein US-Soldat sie eingesteckt hat, der 1945 den Auslagerungsbestand in Bernburg entdeckt hatte. Die Rolle befand sich in Kiste 71, die später mit in die Sowjetunion gebracht wurde.

"Die Rolle hat ein Format, das man leicht in die Hosentasche stecken kann", sagt Elmhäuser: "Vermutlich ist genau das geschehen – ein US-Soldat hat ein Souvenir mitgenommen." Die Rückgabe gegen Erstattung der Unkosten sei eine "außerordentlich noble Geste", lobt der Archivchef.

Da das Original keinerlei Signatur oder Archivstempel trug, hätte nichts gegen den "gutgläubigen Erwerb" durch die Händlerin gesprochen. Es hätte möglicherweise zu einem Bieterwettstreit auf dem freien Markt kommen können, der Deutschland entweder viel Geld gekostet hätte. Oder die "kundige Rolle" wäre von einem privaten Bieter ersteigert worden. Jetzt hat die Geschichte von der verschollenen Verfassungsurkunde ein Happy End gefunden.

 

http://www.welt.de/geschichte/article128433586/Bremens-verschollenes-Recht-wiederaufgetaucht.html
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