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"Mit der Sammlung Gurlitt stehen wir am Anfang einer neuen Diskussion" - "With the Gurlitt collection we are at the beginning of a new discussion"

1998
1970
1945
Neue Zürcher Zeitung 25 May 2014
Von Claudia Schoch

Der Kunstrechtsexperte und Schweizer Verhandlungsleiter bei der Ausarbeitung der Washingtoner Prinzipien von 1998, Andrea Raschèr, fordert einen offenen Umgang nicht nur mit Raubkunst, sondern auch mit «entarteter Kunst». Ein Umdenken sei insbesondere im Fall Gurlitt gefordert, der sich speziell darstellt.


Andrea Raschèr, Kunstrechtsexperte des SRF.

Herr Raschèr, deutsche Museen haben kürzlich erklärt, dass sie, soweit sich in der Sammlung Gurlitt Werke der «entarteten Kunst» befinden, vom Kunstmuseum Bern deren Rückgabe fordern würden. Zunächst, was ist eigentlich «entartete Kunst», und worin unterscheidet sie sich von «Raubkunst»?

Zur Raubkunst gehören verfolgungsbedingte Verluste von Kulturgütern während des Nazi-Regimes zwischen 1933 und 1945, die vornehmlich jüdischen Menschen in Deutschland und den besetzten Gebieten abgepresst oder geraubt wurden oder die diese in ihrer Zwangslage veräussern mussten. Man schätzt die Zahl der so geraubten Werke auf rund 600 000. Zur «entarteten Kunst» zählten die Nazis alle Kunstwerke und kulturellen Strömungen, die nicht mit ihrem Kunstverständnis übereinstimmten, wie Expressionismus, Dadaismus, Kubismus. Zehntausende Kunstgüter wurden konfisziert, zerstört oder ins Ausland verkauft. Ab 1938 wurde jegliche Kunst der Moderne verboten und ein spezifisches Gesetz zur Einziehung erlassen. Die verfemte Kunst wurde aus den Museen und öffentlichen Sammlungen verbannt.

 

 

Für die Raubkunst sucht man, gestützt auf die Washingtoner Prinzipien von 1998, nach «fairen und gerechten Lösungen» für die ursprünglichen und die heutigen Besitzer. Warum gelten ähnliche Regeln nicht auch für «entartete Kunst»?

Die Washingtoner Prinzipien zielen auf gerechte und faire Lösungen mit den Opfern des Nazi-Terrors. Dazu brauchte es einen internationalen Ansatz. Bei der «entarteten Kunst» geht es um Kunst, die das Nazi-Regime aus den Museen der Städte und Länder beseitigt hatte. Das wird landläufig als ein zunächst innerdeutsches Problem verstanden.

Wie wurde bisher denn mit «entarteter Kunst» umgegangen?

Bisher ging man davon aus, dass sich Deutschland unter den Nazis quasi selber beraubt hatte. Es gab ein Gesetz, worauf sich die Konfiszierungen ab 1938 gestützt hatten. Die nach den Beschlagnahmen erfolgten Verkäufe betrachtete man deshalb als legal. Formaljuristisch mag das stimmen; doch dies greift bei genauerer Betrachtung zu kurz. Es handelte sich um Recht eines Unrecht-Staates. Deutschland hat inzwischen auch eine Datenbank der «entarteten Kunst» erstellt. Aus ihr ist ersichtlich, dass der grösste Teil der «entarteten Kunst» aus städtischen Museen geraubt wurde. Viele Museumsdirektoren wehrten sich damals gegen die Herausgabe dieser Kunst oder lehnten diesen Raubzug zumindest ab.

Zu bedenken ist aber, dass die Städte Eigentümer oder Inhaber der Museen waren. Deren Behörden waren durchwegs mit Nazis besetzt, die die Beseitigung der Kunst der Moderne mittrugen.

Ja, das stimmt. Doch man muss auch in der Diskussion um die «entartete Kunst» die Situation in einem weiteren Kontext betrachten und differenziert beurteilen. Am Anfang der Beraubung der Museen stand die Barbarei der Nazis gegen die Menschlichkeit und die Kultur. Sich nun zur Rechtfertigung der Veräusserungen und zu deren Anerkennung als legal auf das Gesetz von 1938 abzustützen, ist auch irgendwie stossend. Die Geschichte ist nicht schwarz-weiss zu sehen, sondern präsentiert sich in unterschiedlichsten Grautönen. Das macht alles so kompliziert und fordert eine differenzierte Sicht auf das Ganze.

Wie sieht es bei der Sammlung Gurlitt aus? Stellt sich hier anders als sonst die Frage nach einer Rückgabe von «entarteter Kunst» an deutsche Museen?

Hildebrand Gurlitt gehörte zu den vier Kunsthändlern des Dritten Reichs; er war eine Schlüsselfigur im Umgang mit der beschlagnahmten Kunst. Er wusste ganz genau um die Umstände der Herkunft dieser Werke. Man muss heute den damaligen Verkauf solcher Werke ins Ausland und die Rückbehaltung solcher Kunst durch Gurlitt unterscheiden. Bei Veräusserungen ins Ausland hatte man es oft mit mehrstufigen Verkäufen zu tun. Im Fall der Sammlung Gurlitt hatte sich hingegen der Kunsthändler Hitlers selber bedient. Und dessen kürzlich verstorbener Sohn zog Nutzen aus den Werken, die aus öffentlichem Besitz stammten, indem er einzelne zur Finanzierung seines Unterhalts veräusserte. Vater und Sohn profitierten ganz direkt von den Raubzügen der Nazis. Ich zweifle, dass sich dies nun auch ein als Erbe eingesetztes Museum leisten darf. Der Fall stellt sich daher speziell dar.

Können rechtliche Argumente für eine Rückgabe bei der Gurlitt-Sammlung ins Feld geführt werden oder nur ethische?

Im Vordergrund stehen museumsethische Überlegungen. Formaljuristisch bestand dieses Gesetz von 1938 zur Einziehung, das von den Alliierten in den fünfziger Jahren auch nicht aufgehoben wurde. Es gibt heute ferner aber das deutsche Kulturgutschutzgesetz, das die Ausfuhr von für das deutsche Kulturerbe wichtigen Werken verbietet. Dieses könnte teilweise zur Anwendung gelangen. In den geltenden Verzeichnissen der Kulturgüter finden sich immerhin Werke von Künstlern, von denen nun auch Bilder in der Sammlung Gurlitt aufgetaucht sind.

Was würde das für das Kunstmuseum Bern heissen?

Würde ein Bild der «entarteten Kunst» in der Gurlitt-Sammlung unter den Kulturgüterschutz gestellt, hiesse dies, dass das Kunstmuseum Bern zwar Eigentümer würde, das Werk aber in Deutschland bleiben müsste. Das gilt übrigens nur für «entartete Kunst», hingegen nicht für Raubkunst.

Für das Kunstmuseum Bern stellen sich bei einer Annahme der Erbschaft auch Fragen nach der Erbschaftssteuer. Besteht Aussicht auf Steuerbefreiung?

Das deutsche Recht kennt die Möglichkeit zur Steuerbefreiung von Kunstsammlungen unter bestimmten Voraussetzungen. Ob dies einer ausländischen Stiftung zugestanden würde, ist offen.

Wäre bei der Steuer eine elegante Lösung denkbar?

Ja, sollten etwa unter der «entarteten Kunst» Werke sein, die unter das Verbot der Ausfuhr von Kulturgütern fallen, wäre vorstellbar, dass das Kunstmuseum Bern diese als Dauerleihgaben den deutschen Museen überlässt und im Gegenzug die deutschen Behörden die Leihgaben als Abgeltung der Erbschaftssteuer anerkennen. Eine solche Lösung ermöglichte es, dass die Bilder für die Öffentlichkeit in deutschen Museum zugänglich wären. Sonst müssten diese Bilder verkauft werden, um die Steuern zu bezahlen. Dadurch könnten sie in private Hände gelangen.

Könnte der Fall Gurlitt zu einem Wendepunkt im Umgang mit «entarteter Kunst» werden?

Mit der Sammlung Gurlitt stehen wir am Anfang einer neuen Diskussion in Bezug auf die «entartete Kunst». Der Fall ist einzigartig. Es ist nicht auszuschliessen, dass er einmalig bleibt; daher ist ein umsichtiges Vorgehen unabdingbar. Es sind noch viele Fragen zu beantworten. Wichtig ist, dass die Diskussion offen geführt wird und kein Schwarz-Weiss-Denken stattfindet. Bedenken wir, dass es vor zwanzig Jahren noch undenkbar war, dass Raubkunst zurückgegeben wird. Man berief sich auf Verjährungen. Heute gehört es zum Standard eines anständigen Museums, Provenienzforschung – die in Deutschland viele sehr ernst nehmen – zu betreiben und die Bilder zurückzugeben oder zumindest «gerechten und fairen» Lösungen zuzuführen. Ähnlich könnte bei der «entarteten Kunst» und insbesondere im Fall Gurlitt der Blick geöffnet werden. Dies ist auch eine Frage des Anstandes.

 

http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/mit-der-sammlung-gurlitt-stehen-wir-am-anfang-einer-neuen-diskussion-1.18308466
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