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«Eine typisch helvetische Doppelmoral» - "Typically Swiss double standards"

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1970
1945
Tages-Anzeiger 28 November 2014
Bernhard Ott und Daniel Di Falco

InterviewDer Zürcher Kunstrechtsexperte Andrea Raschèr wirft dem Bund nach dem Gurlitt-Deal Untätigkeit vor – und dem Kunstmuseum Bern zu wenig Engagement.

«Wie sich der Bund hier aus der Verantwortung zieht, ist befremdlich», sagt Andrea Raschèr. Foto: Reto Oeschger

Diese Woche wurde die Vereinbarung über die Kunstsammlung von ­Cor­nelius Gurlitt besiegelt. Deutschland ist zufrieden, Bayern ist ­zu­frieden, das Kunstmuseum Bern ist zufrieden. Ist jetzt alles in Butter?
Das Museum nimmt die Sammlung eines der wichtigsten Kunsthändler des Naziregimes in sein Haus auf. Oder zumindest Teile davon. Wenn man damit kein Problem hat, dann ist die Annahme der Erbschaft konsequent.

Sollte man damit ein Problem haben?
An dieser Sammlung haftet der Makel ­einer gewaltreichen Vergangenheit, und der bleibt bestehen. Ob dem Museum jetzt oder später ein Makel anhaften wird, liegt am Museum selber. Die Recherchen zahlt und macht Deutschland, damit übernimmt es den grössten Teil der Arbeit, und das ist beachtlich. Den Ertrag nehmen und den Aufwand anderen überlassen – das erscheint mir problematisch, und es hat dem Kunst­museum ja auch schon den Vorwurf des Profiteurs eingebracht.

So zu handeln sei «schändlich», sagten Sie in der «Berner Zeitung».
Genau.

Das Kunstmuseum beteiligt sich mit einer eigenen Fachstelle an der Herkunftsabklärung der Bilder. Zählt das nicht?
Dafür sind zweihundert Stellenprozent vorgesehen. Wer sich nur ein bisschen mit der Materie auskennt, der weiss, dass das viel zu wenig ist.

Warum?
Es geht um jenen Teil von Gurlitts Kunstbestand, der derzeit in Salzburg liegt, und der umfasst rund dreihundert Gemälde. Wenn man sieht, wie viel die Taskforce mit dem Bestand in München bisher erreicht hat, kann man sich ausrechnen, wie viel Arbeit noch wartet.

Sie sprechen von den gerade drei Gemälden binnen eines Jahres, die die Experten definitiv als ­Raubkunst identifizieren konnten?
Das wäre als Massstab unfair. Aber die Provenienzrecherche ist eine höchst aufwendige Tätigkeit.

Dann ist die aktuelle Prognose, der Münchner Bestand werde bis Ende 2015 fertig untersucht sein, nicht realistisch?
Ich wäre sehr überrascht, wenn die Vorgabe eingehalten werden könnte.

Ist die Berner Forschungsstelle also nur ein Alibi?
Sie ist wichtig und richtig. Gerade für die Schweiz, wo es an solcher Forschung mangelt. Aber es wäre mehr Engagement nötig und möglich: Nur schon in Bern gibt es mindestens drei Institutionen, die aktiv mitarbeiten könnten: zuerst das Institut für Kunstgeschichte an der Universität; dann die Hochschule der Künste mit ihrer Abteilung für Restaurierung und Konservierung, die schweizweit führend ist; schliesslich noch die rechtswissenschaftliche Fakultät an der Uni. Alle drei Institutionen unterstehen dem kantonalen Erziehungsdepartement. Dessen Vorsteher Bernhard Pulver hat in Berlin verkündet, der Kanton stehe zu seiner Verantwortung. Da liegt es doch nahe, diese Kräfte zu ­aktivieren und zu bündeln, und das hätte Pulver in der Hand. Diese Institutionen haben ja auch die Aufgabe, angewandte Forschung zu betreiben.

Ihnen schwebt ein Berner Kompetenzzentrum Provenienzforschung vor? Mit den 200 Stellenprozenten ist das nicht möglich.
Doch. Werden die Forschungsarbeiten an Universität und Fachhochschule als angewandte Forschung betrieben, erfordert das kaum zusätzliche Finanzen. Die Lehrenden begleiten die Arbeiten kritisch und verantwortungsvoll. So sind sie anwendungstauglich und werden nicht einzig zur Erlangung eines ­Titels für die Schublade geschrieben.

«Wir gehen keine Risiken ein», heisst es im Kunstmuseum Bern. Wie sicher kann es sich sein?
Entscheidend sind die Gerichtsprozesse, die folgen könnten. Deutschland will dem Museum den Rücken freihalten, aber ob die Vereinbarung in diesem Punkt wirklich standhält, wäre noch zu überprüfen. Insbesondere für den Fall, dass es nicht in Deutschland, sondern in den USA zu Prozessen kommt. Dort können Kosten in Millionenhöhe anfallen. Ich bin nicht sicher, ob die deutsche Unterstützung bis in die USA reicht.

Neben der Raubkunst gibt es auch Kulturgüter, die die Eigentümer in der Not unter den Nazis zu Geld machen mussten. Die Vereinbarung unterstellt auch dieses Fluchtgut den Washingtoner Bestimmungen für Raubkunst, und das Kunst­museum Bern lässt die Finger von diesem Teil des Erbes. Sie nannten das eine «Sensation».
Ja. In der Vereinbarung heisst es, die Werke würden nach der «deutschen Auslegung» des Abkommens von Washington untersucht und gegebenenfalls zurückgegeben. Dazu zählt eben auch sogenanntes Fluchtgut. Für die Schweiz ist das ein Novum. Das Kunstmuseum Bern eröffnet hier eine neue Dimension, indem es den Begriff der Raubkunst ausweitet.

Hat man damit einen Präzedenzfall geschaffen? Jetzt könnten auch die Fluchtgut-Bilder beanstandet werden, die in Schweizer Museen hängen, aber bisher nicht beanstandet werden konnten – vielleicht sogar im Kunstmuseum Bern selber.
Richtig. Umso interessanter zu sehen, wie sich das Museum in Zukunft verhält. Eine solche Vereinbarung unterschreiben, aber die bisherigen Bestände nach anderen Massstäben messen, das wäre widersprüchlich. Es wäre zudem konsequent, wenn auch andere Schweizer Museen diese Praxis übernehmen würden – sie könnten unter Zugzwang kommen.

Gibt es einen Gruppendruck unter Museen?
Nein, aber es gibt die normative Kraft des Faktischen. Damit dürfte die Schweiz endlich auf denselben Standard kommen wie Deutschland.

Bei Verstössen gegen die Washingtoner Norm gibt es allerdings keine Sanktionen. Ein Museum kann sich jetzt auch unbeeindruckt zeigen.
Es ist alles möglich. Bloss: Wenn irgend ein Museum heute den neuen Standard ignorieren will, dann müsste es das ­öffentlich begründen. Der Legitimations­bedarf hat sich erhöht.

Die Raubkunst der Sammlung Gurlitt bleibt in Deutschland. Ins ­Kunst­museum Bern kommen aber Werke der «entarteten Kunst», die von den Nazis in deutschen Museen ­beschlagnahmt wurden. Hier will das Museum die Rechtslage nicht infrage stellen und nimmt die Bilder gern.
Eine typische helvetische Doppelmoral. Vergessen wir nicht: Am Anfang stand die Beraubung deutscher Museen aufgrund eines menschenverachtenden, kulturfeindlichen Gesetzes von 1938. Man muss sich seinen Namen einmal vor Augen führen: «Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst». Darauf will sich das Kunstmuseum nun stützen. Nach dem Krieg wurden die meisten NS-Gesetze aufgehoben – dieses nicht. Wenn eine öffentlich finanzierte Kulturinstitution sich heute auf ein derartiges Gesetz stützt, ist das stossend.

Opfer des Einziehungsgesetzes waren aber nicht Private, sondern Museen, die nazifiziert waren. Da hat sich ein Staat selber beraubt.
Das ist Unsinn. Es ist ein Unrechtsstaat, und es ist ein Unrechtsgesetz, mit dem dieser Kulturgüter taxiert hat. Die Nazis haben definiert, wer arisch, nicht-arisch und jüdisch ist. Sie haben auch definiert, was «entartete Kunst» ist, und sie haben danach gehandelt. Würde das Kunstmuseum Bern heute dieses Gesetz auch respektieren wollen, wenn es Opfer von Beschlagnahmungen «entarteter Kunst» geworden wäre? Es profitiert im Nachhinein von der Verunglimpfung der «entarteten Kunst».

Was hätte es denn tun sollen?
Es müsste sich mindestens mit dem Thema offensiver auseinandersetzen. Es könnte gut ein Zeichen für einen anderen Umgang mit «entarteter Kunst» setzen. Es könnte all diese Werke zum Beispiel dauerhaft an die deutschen Museen ausleihen. Die Vereinbarung lässt das durchaus zu.

Das Kunstmuseum Bern befürchtet in diesem Fall eine endlose Verschiebung von Bildern zwischen Museen.
Ich bin überzeugt, dass wir an einem Wendepunkt im Umgang mit der sogenannt entarteten Kunst stehen. Jutta Limbach, die ehemalige Präsidentin des deutschen Bundesverfassungsgerichtes, nannte das Einziehungsgesetz ein Unrechtsgesetz. Darüber hinaus gibt es durchaus Museen wie in Mannheim, welche die Bilder zurückhaben möchten.

Darüber ist man sich aber auch in Deutschland nicht einig.
Es ist kontrovers. Aber die Haltung des Kunstmuseums zur «entarteten Kunst» erinnert an die Haltung der Schweiz gegenüber der Raubkunst vor über fünfzehn Jahren: Uns interessiert nicht, ob Kunst von den Nazis weggenommen wurde, in der Schweiz ist das verjährt. Mit dem Washingtoner Abkommen von 1998 hat sich das geändert.

Deutschland hat bezüglich «­ent­arteter Kunst» einen Salto gemacht: Der Trend in der ­Rechtswissenschaft ging zuletzt eher in Richtung Restitution.
Es geht ja nicht darum, dass das Kunst­museum Bern alles zurückgibt. Es geht um eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet sollte nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern auch zwischen Museen erfolgen.

Warum wollte Deutschland die «entartete Kunst» Bern überlassen?
Für Deutschland ist der Gurlitt-Deal ein riesiger Imagegewinn: Die Sammlung geht nicht an private Erben, die Teile davon eventuell verkauft hätten, Deutschland kann sich das Problem vom Hals schaffen und steht auch noch gut da, indem es die Provenienzforschung finanziert. Vor drei Jahren, in der Steuerfluchtdebatte, wollte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück die Kavallerie in die Schweiz schicken, und heute bezahlt Deutschland für die Provenienzforschung und für allfällige Prozesse um Gemälde, die dem Kunstmuseum Bern gehören. Das ist Entwicklungshilfe für die Schweiz. Deutschland behandelt die Schweiz wie ein Entwicklungsland.

Bei der Unterzeichnung der Vereinbarung in Berlin fiel auf, dass niemand aus Bundesbern das Wort ergriffen hat. Wie ist das zu verstehen?
Die deutsche Bundesministerin für Kultur und der bayrische Justizminister haben die Vereinbarung präsentiert. Aus der Schweiz waren es der bernische Erziehungsdirektor und der Stiftungspräsident des Kunstmuseums. Anwesend war zudem die Direktorin des Bundesamts für Kultur, aber die hat offenbar nichts sagen wollen. Das heisst: Auf Augenhöhe mit der deutschen Ministerin war niemand aus der Schweiz, und das bei einem Thema von nationaler Bedeutung.

Andererseits unterhält der Bund eine Anlaufstelle für Raubkunst.
Ich kann das Engagement der Anlaufstelle für Raubkunst derzeit schwer einschätzen. Mit der Anwesenheit in Berlin hätte der Bund Anerkennung ­signalisieren können, ebenso die Möglichkeit, dass er später in der Sache mitwirken könnte. Immerhin schreibt der Bundesrat in seiner Kulturbotschaft, ungenügende Provenienzforschung sei ein «erhebliches Risiko für den Ruf eines Staates». Der Bund kann sich doch nicht aus der Verantwortung stehlen, wenn es um die Anwendung der Washingtoner Prinzipien geht, die er selber mit ausgearbeitet und mit ausgehandelt hat. Jetzt haben wir, mit dem Erbe Cornelius Gurlitts, einen Anwendungsfall, und zwar einen mit weltweiter Ausstrahlung. Und der Bund sagt, wir haben zwar unterzeichnet, aber die Umsetzung liegt nicht bei uns – sich so aus der Verantwortung zu ziehen, ist doch befremdlich.

In der Schweiz sind es die Kantone und nicht der Bund, die primär für die Kultur zuständig sind.
Andererseits lanciert Bundesrat Alain Berset immer wieder eine nationale Kulturpolitik, das ist doch verwunderlich. Auch in Deutschland haben die Bundesländer die Hoheit über die Kulturpolitik, aber trotzdem war die ­Bundesministerin da. Kulturhoheit heisst keineswegs, dass man nicht tätig werden kann. Im Moment sehe ich tatsächlich wenig Interesse an der Mitarbeit bei der Lösung einer Aufgabe, die die ganze Schweiz angeht. Auch bei der Gefährdung von Kulturgütern in Syrien zum Beispiel wurde das BAK nur zögerlich aktiv.

Immerhin soll der Bund die Gespräche in Sachen Gurlitt begleitet haben.
Das kann sein, davon weiss ich nichts. Das EDA war sicher beteiligt: Botschafter Tim Guldimann sass bei der Unterzeichnung der Vereinbarung in der ersten Reihe – und er ist einer der besten Verhandler weltweit.

Was erwarten Sie jetzt vom Bund? Dass er einen Zacken zulegt nach der Erweiterung des ­Raubkunstbegriffs?
Er hat ja auch Fachleute für die Provenienzforschung. Es wäre an am Bund, sein Know-how zur Verfügung zu stellen. Wenn nicht gar finanzielle Mittel.

Genau das hat er diese Woche erneut und kategorisch abgelehnt: Vom Bund kommt kein Geld.
Obwohl es möglich wäre aufgrund des Kulturfördergesetzes.

Wie sähe das aus in der Schweizer Museumslandschaft, wenn sich der Bund für ein einzelnes Museum so punktuell engagieren würde?
Der Bund engagiert sich beispielsweise auch für das Verkehrshaus oder für das Alpine Museum und demnächst auch noch für den Ballenberg.

Ist Deutschland in diesem Punkt ein Vorbild?
Ja. Zumindest einen Teil der Zurückhaltung des Bundes kann ich im Moment aber verstehen: Es ist nun am Kunst­museum Bern, ein überzeugendes Konzept für den Umgang mit der Sammlung Gurlitt auf den Tisch zu legen, und erst dann kann der Bund entscheiden, was er dazu beitragen kann und will.

Das Museum muss etwas verlangen, um etwas zu bekommen.
Vor allem muss es sagen können, wofür genau es Unterstützung benötigt.

Bei den nachrichtenlosen Vermögen hat es Jahrzehnte gedauert, und es brauchte den Druck einer Weltmacht wie den USA, damit diese Altlast in der Schweiz aufgearbeitet wurde. Wiederholt sich etwas Ähnliches nun mit der Raubkunst?
Ja, die Schweiz reagiert in solchen Dingen nur auf Druck. Bei den Banken wird reagiert, weil diese «systemrelevant» sein sollen. Raubkunst ist zwar «reputationsrelevant», aber nicht «systemrelevant». Sie war schon in den Neunzigerjahren ein Thema, zusammen mit den nachrichtenlosen Konten. Damals hat der Bund seine eigene Kunstsammlung geprüft, da waren wir Vorreiter. Zweitens haben wir beim BAK eine Studie in Auftrag gegeben über das Verhalten der Schweiz in und nach dem Zweiten Weltkrieg. Und drittens hat dann auch die Bergier-Kommission die Raubgut- und Fluchtgut-Frage erforscht.

Warum hat der Bund das Thema seither vernachlässigt?
Die helvetische Untugend des Aussitzens hat ihn eingeholt: Lassen wir den Sturm vorbeigehen. Wie oft haben wir das bei den Banken erlebt? Das ist ein ziemlich gut eingespieltes Muster in diesem Land. Es braucht einen externen Katalysator, damit eine Diskussion ins Rollen kommt. Die Sammlung Gurlitt ist ein Geschenk, und das bisherige Verhalten der Akteure kann man nur als kleinlich taxieren.

Wo war es überall kleinlich?
Beim Auftritt in Berlin, beim Überlassen der meisten Kosten an Deutschland, bei der Zurückhaltung des Bundes. Und auch vom Museum habe ich bis jetzt kein Wort des Danks oder der Anerkennung dafür gehört, dass Cornelius Gurlitt ihm eine solche Sammlung vermacht hat. Verhält sich ein Erbe so gegenüber dem Erblasser? Es kommt mir vor, als ob man diesen Menschen vor lauter Scham vergessen möchte.


http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/kunst/Der-RaubkunstBegriff-wird-ausgeweitet/story/17171215
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