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NS-Raubgut in der Stadtbibliothek Nürnberg - Nazi looted works in the Nuremberg City Library

1998
1970
1945
Hagalil 15 March 2018
Von Jim G. Tobias

Die „Stürmer-Bibliothek“ und die Eigentumsfrage nach 1945…



Im Mai 1950 gab die Yeshiva University in New York folgende Mitteilung an die Presse: „In der Pollack Graduate Library der Yeshiva University stehen, aufgestapelt an einer Wand, 82 ungeöffnete Kisten mit 8.000 jiddischen und hebräischen Büchern. Ein unerwartetes und keineswegs alltägliches Geschenk“, freute sich die Leitung der renommierten Bildungseinrichtung. Die Bücher stammten aus Deutschland, aus der Raubsammlung von Julius Streicher. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war überall in Deutschland „entartete“ und insbesondere jüdische Literatur aus den Bibliotheken, Buchhandlungen und Verlagsbeständen entfernt worden.

Nach einem Bericht der Nürnberger Nachrichten vom Herbst 1945 sollen etwa 15.000 Bände, davon der größte Teil Literatur über die „Judenfrage“, sichergestellt worden sein. Neben den über 10.000 Druck-Erzeugnissen in der Redaktion des Stürmer befanden sich auf Streichers Landgut, dem Pleikershof, nochmals rund 3.000 geraubte Bücher aus dem Besitz von vertriebenen, deportierten und ermordeten Menschen. Die US-Militärregierung hatte den Pleikershof beschlagnahmt und ihn an Überlebende der Shoa übergeben. Das Streicher-Gut verwandelte sich im Herbst 1945 in den Kibbuz Nili, eine Trainingsfarm, auf der bis Ende 1948 junge jüdische Männer und Frauen auf ihr späteres Leben in Israel vorbereitet wurden.

Obwohl die Stürmer-Bibliothek sich vornehmlich aus Raubgut jüdischer Provenienz zusammensetzte, befanden sich auch Bücher aus den geplünderten Bibliotheken von Freimaurerlogen sowie oppositionellen politischen Organisationen in der Sammlung. Nachdem die Schriften von den Mitarbeitern der Monuments, Fine Arts, and Archives Section (MFA & A) sichergestellt worden waren, wurden sie der Nürnberger Stadtbibliothek angeboten – u. a. als Ersatz für einen von den US-Truppen versehentlich vernichteten Buchbestand aus städtischem Besitz, wie einer Publikation des Hauses zu entnehmen ist. In einem US-Report vom 11. August 1945 wird dieser Sachverhalt bestätigt, heißt es doch dort: „Die im Stürmer Verlag aufgefundene Sammlung von jüdischen Büchern wurde von 1st Lt. Frank P. Albright, MFA & A Officer, an den Direktor der Stadtbibliothek Nürnberg, Dr. Friedrich Bock als Eigentum und nicht als treuhänderischer Besitz übergeben. Daher kann die Bibliothek mit den Büchern verfahren, wie es ihr gefällt.“ Der Chefbibliothekar musste eine detaillierte Liste der ihm anvertrauten Bücher erstellen und den Erhalt quittieren.

Wie die vielen Tausend Bände in die Hände von Julius Streicher gelangten, dazu nachfolgend einige Beispiele: „In den Synagogen sowie in den Wohnungen von geflüchteten bzw. ausgewiesenen Juden ist viel Material zurückgeblieben, das für den Stürmer von großem Interesse ist“, schrieb Julius Streicher im November 1940 an den NSDAP-Kreisleiter von Straßburg, „der Stürmer bittet Sie, ihm dieses Material zu überlassen“. Ein Wunsch, der prompt erfüllt wurde: In Streichers Bibliothek befanden sich u. a. Bände aus dem Bestand der Librairie Israelite, der Bibliothèque Hatikvah, der École de travail Israelite du Bas Rhin sowie des Temple Consistorial de Strasbourg.

Der deutsche Bürgermeister aus dem Ort Góra-Kalwaria bei Warschau wandte sich am 31. Mai 1940 mit einem Brief an den Stürmer: „Ich stelle mich gleichzeitig mit größtem Einsatz zur Verfügung und benachrichtige Sie, dass ich schon sämtliche in meinem Orte befindliche jüdischen Bibliotheken sichergestellt habe. Ich weise aber daraufhin, dass sich in diesem Orte größere Mengen von jüdischen Büchereien befinden, darum bitte ich Sie nochmal schriftlich bescheidzugeben, ob Sie alle hier befindlichen jüdischen Bücher gebrauchen können. […] es würde immerhin ein Güterwagen voll sein.“

Links: Ilse und Hans Wertheimer; rechts: Lesefibel von Ilse Wertheimer (heute Alisa Kirby). Dem jungen Mädchen gelang 1939 die Flucht nach England. Heute lebt sie in Naharija (Israel). Neben diesem Band erhielt sie auch ein Hebräisch-Lehrbuch mit handschriftlichen Einträgen und Zeichnungen ihres ermordeten Bruders Hans. Repros: nurinst-archiv

Unter der Bezeichnung „Aktion 3“ begann die Reichsfinanzverwaltung ab 1941 mit der Beschlagnahmung des in den Wohnungen befindlichen letzten Eigentums der deportierten Juden. Neben Hausrat, Möbel, Kleidung und Wäsche wurden auch Bücher eingezogen und verwertet beziehungsweise staatlichen Stellen sowie Parteigliederungen angeboten. Der Hauptprofiteur dieses fiskalischen Buchraubs war der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, doch erhielt die Stürmer-Bibliothek gleichfalls einen großen Posten „jüdischer Bücher“.

Zudem wurden mehrfach wertvolle Bücher aus der Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg (IKG) beschlagnahmt, die in den 1920er-Jahren aus rund 2500 Bänden bestand. Den Rest der Sammlung konfiszierten Gestapo-Beamte bei der Zwangsauflösung der Jüdischen Gemeinde im Juni 1943. Teile davon fanden sich später in den Redaktionsräumen des Stürmers.

Weil in „einer ganzen Reihe von Büchern […] des öfteren der Stempel der IKG Nürnberg angebracht“ war, sollen nach Angaben des verstorbenen langjährigen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, Arno Hamburger, die Amerikaner etwa Anfang Juni 1945 die gesamte Sammlung Stürmer-Bibliothek der neu gegründeten jüdischen Gemeinde Nürnbergs übereignet haben. Die damals im Aufbau befindliche IKG Nürnberg habe aber über keine Möglichkeiten verfügt, die vielen Bände unterzubringen, daher sollen die Schriften an die Stadtbibliothek Nürnberg zur Verwahrung weitergegeben worden sein, so Hamburger. Obwohl diese Darstellung, „die keinen Niederschlag in den schriftlichen Quellen gefunden hatte und in Vergessenheit geraten war“, lediglich auf Erinnerungen des Zeitzeugen basiert, erkannte die Stadt Nürnberg im Januar 2003 die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg offiziell als Eigentümerin der Stürmer-Bibliothek an. Was im Einzelnen vereinbart wurde, ist jedoch nicht bekannt. Weil „ein berechtigtes Interesse der beiden Vertragspartner“ (IKG und Stadt Nürnberg) vorliege, sei der „Inhalt des Vertrages nicht öffentlich zugänglich zu machen“, teilte die Stadtbibliothek Nürnberg mit. Seit dieser Zeit wird die Raubsammlung unter der Bezeichnung „Sammlung Israelitische Kultusgemeinde“ geführt.

Obwohl nach dem Gesetz der Militärregierung die wiedererstandenen Kultusgemeinden in der amerikanischen Zone nicht Rechtsnachfolger der zwangsaufgelösten Kultusgemeinden im Deutschen Reich waren, hielt der IKG-Vorsitzende zeitlebens an seiner Version fest, dass ein US-Offizier bei einem „in einer sehr warmen und freundlichen Atmosphäre stattgefundenen Gespräch“ 1945 die Stürmer-Bibliothek der neu gegründeten IKG „übereignet“ habe. Eine Darstellung, die im Widerspruch zu den Aussagen der überlieferten Dokumente steht.

Wie bereits erwähnt, wurde die Sammlung Stürmer-Bibliothek von der US-Militärverwaltung zunächst der Stadtbibliothek Nürnberg übereignet. Doch ihr Leiter Dr. Friedrich Bock fühlte sich seinerzeit offensichtlich moralisch verpflichtet, die Bücher dem Sekretär der IKG Nürnberg, Bernhard Kolb, anzubieten. Der Vertreter der IKG wollte die Bücher jedoch nicht, da er nach der Shoa keine Zukunft für eine jüdische Gemeinde in Nürnberg sah: „Die rund hundert Juden, die nach der Befreiung in Nürnberg lebten, sind entweder bereits emigriert oder werden dies in naher Zukunft tun“, erklärte er dem Educational Director des American Jewish Joint Distribution Committee (kurz Joint genannt), Koppel S. Pinson. „In Anbetracht dessen“, so notierte Pinson in einem Report, „hat Mr. Kolb mir die gesamte Sammlung übergeben, unter der Bedingung, dass sie in die USA verbracht wird“. Dieses Vorhaben stieß jedoch auf Protest: Der in Nordbayern tätige US-Militärrabbiner Abraham Spiro wollte die Stürmer-Bibliothek an die jüdischen Displaced Persons Camps ausliefern, da die Überlebenden der Shoa nach Literatur dürsteten. Weil man die einzigartige Sammlung jedoch in ihrer Gänze für die wissenschaftliche Forschung erhalten wollte, wurde dieser Wunsch nicht erfüllt.

Das Zentralkomitee der befreiten Juden in der US-Zone, die Interessenvertretung der Holocaust-Überlebenden, plädierte dafür, die Schriften nach Palästina zu bringen. „Unserer Ansicht nach gehören diese Bücher nach Jerusalem und nicht nach USA“, unterstrich ein Vertreter des Komitees. Auch der spätere israelische Staatspräsident Chaim Weizmann betrachtete den Jischuw als einzigen und rechtmäßigen Erben aller aus jüdischem Besitz geraubten Bücher. „Das ist das Eigentum des Opfers. Und das Opfer ist das jüdische Volk als Ganzes. Folglich ist der wahre Erbe das jüdische Volk“, schrieb er an die Militärregierung in Deutschland. Zwar gelangten einige Bücher, teilweise auf verschlungenem Wege, nach Palästina, doch die Mehrheit wurde via Offenbach Archival Depot (OAD) in die Vereinigten Staaten geliefert. Im August 1946 ging von Nürnberg ein Transport mit „der Hälfte der Sammlung“ Stürmer-Bibliothek nach Offenbach. Die andere Hälfte wurde auf Befehl des MFA & A Officer E. Rae in Nürnberg zurückbehalten. Am 16. August 1946 bestätigte das OAD den Erhalt eines Teiles „der jüdischen Sammlung, früher Stürmer Verlag, aus Nürnberg“.

In Offenbach lagerten die Bücher, bis die zentrale Sammelstelle im Sommer 1949 als eigenständige Einrichtung geschlossen und mit dem Wiesbaden Collection Point zusammengelegt wurde. Obwohl das meiste im OAD sichergestellte Raubgut restituiert werden konnte, warteten noch immer über 370. 000 Bücher, vorwiegend aus jüdischem Besitz auf ihre Rückgabe. Doch viele ihrer rechtmäßigen Eigentümer waren nicht mehr am Leben. Die neu entstandenen jüdischen Gemeinden setzten sich dennoch für den Verbleib in Deutschland ein. Das lehnten jedoch die Vertreter der Jewish Cultural Reconstruction (JCR) ab, die den wenigen und kleinen deutschen „Ghost Communities“ das Recht absprachen, das Erbe der ermordeten oder emigrierten Juden zu übernehmen. Nach ihrem Verständnis gehörten die besitzlosen Bücher den in die USA geflüchteten deutschen Juden. Dieser Rechtsauffassung schloss sich auch die Besatzungsmacht an, indem sie die JCR als Treuhänder anerkannte und ihr das gesamte noch in Offenbach verbliebene Kulturgut übergab. Sogleich wurden die „erbenlosen“ Bücher in Kisten verpackt und für den Versand nach Übersee vorbereitet.

So landten Tausende von Bänden aus der Stürmer-Bibliothek in der New Yorker Yeshiva University. Mit großer Genugtuung nahm der Bibliothekar, Jacob Dienstag, die Sammlung mit den Worten in Empfang: „Streicher wird sich wahrscheinlich im Grab herumdrehen, wenn er wüsste, dass die Bücher nun in einer Jüdischen Bibliothek einen würdigen Platz gefunden haben. Glücklicherweise haben die Deutschen die Bücher nicht zerstört, sie sind alle unversehrt. Die jüdische Gelehrsamkeit und Wissenschaft wird davon profitieren.“

Doch nicht alle Bücher waren für die Yeshiva University bestimmt. Die JCR hatte auch dem Jewish Theological Seminary und dem Jewish Institute of Religion Bücher zugesagt. Etwa ein halbes Jahr nachdem die Bände in der Universität eingetroffen waren, erinnerte Hannah Arendt, die Geschäftsführerin des JCR, Bibliothekar Dienstag an diese Übereinkunft: „Darf ich Sie darauf aufmerksam machen“, schrieb sie, dass „wir mit dem Theological Seminary und dem Jewish Institute of Religion vereinbart hatten, dass Vertreter dieser Institutionen Sonntagmorgen, dem 28. Januar um 9.00 Uhr ihre Auswahl hinsichtlich der Bücher aus der Stürmer-Bibliothek treffen wollen.“ Gemäß einem JCR-Schreiben sollten das Theological Seminary und das Jewish Institute for Religion maximal 15 Prozent aus der Büchersammlung in den Kategorien Bibelkommentare, Ritual- und Gebetsbücher und Talmudkommentare erhalten. Bei den letzteren Bänden durften sie bis zu 50 Prozent beanspruchen, ohne allerdings in der Gesamtsumme die 15 Prozent zu überschreiten.

Die Mehrheit der Schriften blieb in der Yeshiva University, weil, so betonte Bibliothekar Dienstag, „die Sammlung komplett erhalten bleiben muss, damit sie für Studienzwecke zur Verfügung steht“. Unter den vielen Tausend Bänden befanden sich auch manche wertvollen Drucke aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Einige waren sehr gut erhalten und gepflegt, teilweise in Leder gebunden, andere waren brüchig und zerfleddert und mussten restauriert werden. Hinsichtlich der Themen war von romantischen Erzählungen bis hin zu jüdischen Gesetzbüchern ein breites Spektrum in vielen Sprachen zu finden.

Der in Nürnberg verbliebene Teil der Stürmer-Bibliothek (über 8.000 Bände) lagerte bis Ende der 1990er-Jahr unbeachtet im Magazin der Stadtbibliothek Nürnberg. Anlässlich der im Jahr 2000 durchgeführten 950-Jahrfeier der Stadt wurde begonnen, die Sammlung zu erschließen und zu katalogisieren – diese Arbeiten wurden zwischenzeitlich beendet. Dabei stellte sich heraus, dass die Sammlung kaum wertvolle oder seltene Bände mehr enthält. Anhand einiger mit Besitzvermerken versehener Bücher wurde das Schicksal von verfolgten oder ermordeten jüdischen Bürgern der Stadt im Rahmen einer Ausstellung nacherzählt. Zu diesem Zeitpunkt stellten sich die Verantwortlichen die Frage bezüglich der gesetzmäßigen Eigentümer oder deren Erben nicht. Erst als das Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts die Stadtbibliothek auf die Problematik „Raubgut und Restitution“ sowie auf die Verpflichtungen hinsichtlich der Washingtoner Erklärung aufmerksam machte, kam etwas Bewegung in die Angelegenheit. Auf Initiative des Nürnberger Instituts wurden erste Bände an Privatpersonen und an die Israelitische Kultusgemeinde Wien restituiert und sukzessive die Provenienz (Besitzeinträge) online gestellt. Bis dato wurden – nach Angaben der Stadtbibliothek – einige Hundert Bücher zurückerstattet. Allerdings wies die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg in den schriftlichen Restitutionsvereinbarungen ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei den Büchern um „Überreste der Redaktionsbibliothek […] bzw. der Privatbibliothek des Julius Streicher [handelt, die] der IKG Nürnberg übereignet“ wurden. „Die Büchersammlung wird seitdem auf Wunsch der IKG in der Stadtbibliothek Nürnberg als Dauerleihgabe aufbewahrt.“

Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor an der Hochschule für Jüdische Studien (Heidelberg) im Rahmen der Tagung „Ersessene Kunst – Der Fall Gurlitt“ hielt. Eine mit ausführlichen Quellen versehene Version erschien 2015 im gleichnamigen Tagungsband, hrsg. von Johannes Heil und Annette Weber, Metropol Verlag. Bestellen?

Weitere Informationen (auch zu Fragen der Restitution) erhalten Sie hier: https://www.nuernberg.de/internet/stadtbibliothek/sammlungikg.html 

Bild oben: 9. November 1938: Ein SA-Mann raubt Bücher aus der Nürnberger Synagoge Adas Israel. Repro: Herbert Kolb, Paramus (NJ)


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