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Ein Auge für die Raubkunst - An eye for looted art

1998
1970
1945
Berner Zeitung 18 April 2018
Interview: Stefanie Christ

Morgen Donnerstag startet die zweite Gurlitt­-Ausstellung. Nikola Doll leitet die Provenienzforschung und nimmt auch die Kunstmuseum-eigene Sammlung genau unter die Lupe­.

Erforscht die Sammlung des Kunstmuseums Bern: Die Provenienzexpertin Nikola Doll.

Frau Doll, 2016 hiess es aus dem Kunstmuseum: Bei rund 40 Prozent jener Werke aus der hauseigenen Sammlung, die nach 1933 ins Haus kamen und vor 1945 entstanden sind, sei die genaue Herkunft unklar.
Nikola Doll: Ich habe meine Arbeit vor einem Jahr aufgenommen. Seither hat die Abteilung Provenienzforschung des Kunstmuseums den gesamten Bestand grob gesichtet und Provenienz­lücken festgestellt. Daraus ergab sich eine Prioritätenliste von Gemälden und Skulpturen, die wir vorgängig prüfen werden. Bei diesen rund 60 Werken liegt uns mittlerweile eine substanziellere Dokumentation vor. Die Sammlungen des Kunstmuseums umfassen mehr als 3000 Gemälde und Skulpturen sowie weit mehr als 30'000 Grafiken – auf den Wert 40 Prozent würde ich mich aber nicht festlegen wollen.

Welche Hinweise lassen Sie ­aufhorchen?
Zum einen sind dies Hinweise am Werk selbst. Beispielsweise Nummern, die auf Beschlagnahmungen hinweisen, oder Aufkleber von Galerien und Kunsthändlern, die bekanntlich mit Raubkunst gehandelt haben – sogenannte Red Flag Names. Zum anderen können dies Dokumente sein, die Aufschluss über die Vorbesitzer und die Verkäufe des Werks geben. So ist es auffällig, wenn Besitzerwechsel oder Erwerbungsart zwischen 1933 und 1945 nicht oder nur ungenau belegt sind beziehungsweise genau in diesem Zeitraum Provenienzlücken auftreten. Aufhorchen lässt auch, wenn der Name eines Vorbesitzers auftaucht, von dem bekannt ist, dass er während des Nationalsozialismus verfolgt wurde und Kunstwerke unter Druck verkaufen musste.

Ein umstrittenes Werk aus der Sammlung ist «Dünen und Meer» von Ernst Ludwig Kirchner. Es wurde 1937 als deutsches Staatseigentum beschlagnahmt – doch es könnte sich um eine Leihgabe gehandelt haben, was er zur Raubkunst erklären würde. Gibt es neue Erkenntnisse?
Ja. Bislang bestand die Vermutung, dass das Werk als Leihgabe aus Privatbesitz im Rahmen der Aktion «Entartete Kunst» in der Kunsthalle Bremen beschlagnahmt wurde. Nun hat sich ein neuer Hinweis gefunden, und wir können den Kreis eingrenzen.

Umstritten: Kirchners «Dünen und Meer». Bild: Kunstmuseum Bern, Schweiz/Muse

Sind Sie auch im Fall «Les ané­mones» von Henri Matisse weitergekommen? Das 1944 angekaufte Werk gehörte dem Genfer Verleger Albert Skira, der in Raubkunstfälle verstrickt war.
Nein, da steckt die Forschung fest. Noch ist zu wenig bekannt über die Rolle Skiras im Kunsthandel zwischen der Schweiz und Frankreich.

Wie steht es um das 1941 gekaufte Bild «Le réveil» von Gustave Courbet? Nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannte ein Streit, ob es der ehemalige Besitzer unter Zwang veräussern musste. Noch in den Fünfzigerjahren entschied das Gericht ­zugunsten des Museums.
Diesen Fall werden wir uns sicher noch einmal genauer anschauen.

Und zu einem anderen Schluss kommen als das Gericht damals?
Das Recht ist ja nicht starr und ein Urteil immer gegenwartsbezogen. Seit der Urteilsfindung vor mehr als 50 Jahren hat sich beispielsweise die Quellenlage verändert. Wir verfügen heute über mehr historische Kenntnisse über den nationalsozialistischen Kunstraub. Durch die Digitalisierung sind auch mehr Archivalien zugänglich. So kann sich die Sachlage verändern. Zudem hat sich seit Verabschiedung der Washington Principles vor nunmehr 20 Jahren auch das Selbstverständnis der Museen gewandelt. Sie werden auch an ihrer Haltung gegenüber Raubkunst in den eigenen Sammlungen gemessen.

Auf was für neue Fälle sind Sie gestossen?
Wir haben festgestellt, dass einige der Werke auf unserer Prioritätenliste aus derselben Sammlung stammen. Sie weisen alle dieselbe Provenienz auf, und hier findet sich ein Red Flag Name. Entsprechend werden wir nun alle Werke aus diesem Bestand einmal genauer untersuchen. Dieser Fall zeigt auch, dass in der Provenienzforschung neben dem einzelnen Werk auch die Kontexte wichtig sind.

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie einen solchen Fall aufdecken?
Ich forsche gerne, es ist also antreibend und inspirierend, nach neuen Forschungswegen zu suchen, Dokumente aufzustöbern und plötzlich zu realisieren, dass ein Zusammenhang besteht, der bisher übersehen wurde – das ist ein grosser intellektueller Reiz.

Raubkunst betrifft ja nicht nur die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Sind Sie in der Sammlung auf Verdachtsfälle aus anderen Epochen gestossen?
Ja, überraschenderweise sind wir auf eine Gruppe afrikanischer Skulpturen gestossen.

Wie werden Ihre Forschungserkenntnisse für die Museumsbesucher sichtbar?
Zum einen werden wir die Herkunftsgeschichten in den Ausstellungsräumen auf den Werkschildern neben den Exponaten angeben. Zum anderen streben wir die Veröffentlichung der Provenienzen in einer Datenbank an. Ausserdem führen wir regelmässig Veranstaltungen zum Thema durch, so etwa die «Provenienzwerkstatt». Für die nun anstehende zweite Gurlitt-Ausstellung sind Vorträge und Diskussionsrunden geplant. Längerfristig sind auch kleinere Ausstellungen zum Thema denkbar.

«Es ist antreibend und inspirierend, plötzlich zu ­realisieren, dass  ein Zusammenhang besteht, der bisher übersehen wurde.»Nikola Doll

Wie schätzen Sie die Ankaufspolitik des Kunstmuseums ein?
Soweit ich dies aus den Dokumentationen, die mir vorliegen, beurteilen kann, war die Sensi­bilität für umstrittene Werke unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hoch – was wohl auch daran liegt, dass die Institution damals Anlaufstelle war für Raubkunstfälle in der Schweiz, ein Collecting Point. In den Achtzigerjahren wurden die Provenienzen punktuell erforscht.

Ihre Abteilung wird durch private Spendengelder und mit insgesamt 200'000 Franken vom Bundesamt für Kultur unterstützt. Wie lange reicht das Geld?
Sagen wir es so: Wir haben einen limitierten Rahmen. Bei den Bundesgeldern handelt es sich um eine projektbezogene Finanzierung. Damit erschliessen wir das Museumsarchiv und erforschen die Provenienzen von Werken aus der Sammlung des Kunstmuseums.

Wie schnell kommen Sie voran?
Durchschnittlich rechnet man, pro Jahr die Provenienzen von ­etwa 60 Werken zu erforschen.

Bis Ende 2021 muss das Kunstmuseum definitiv entschieden haben, welche Gurlitt-Bilder nach Bern kommen. Übernommen werden ja keine Raubkunstwerke. Schafft Deutschland die nötigen Abklärungen?
Das Projekt «Provenienzrecherche Gurlitt» des Zentrums für Kulturgutverlust ist aktuell damit beschäftigt, die Berichte zu den erforschten Konvoluten abzuschliessen.

Das betrifft rund 700 Werke. Was ist mit den anderen Bildern unklarer Herkunft?
Seit Beginn des Jahres beteiligt sich das Kunstmuseum Bern an der Forschung. Wir prüfen jene Werke aus dem Gurlitt-Bestand, die 1937/1938 im Rahmen der Aktion «Entartete Kunst» aus deutschen Museen beschlagnahmt wurden. Es handelt sich dabei um mehr als 400 Werke.

Durch das Gurlitt-Erbe nimmt das Kunstmuseum Bern eine Vorbildfunktion in der Provenienzforschung ein. Besteht die Gefahr, dass dies nur ein vor­übergehendes Engagement ist?
Die Provenienzforschung stärkt das Bewusstsein für die Geschichte der einzelnen Objekte und der Sammlung allgemein. Das Wissen um die Herkunft und die Erwerbungsumstände bereichert unsere Sammlung und eröffnet neue Fragestellungen. Auch wenn in einem Kunstmuseum die Ästhetik des Werks im Vordergrund steht, zeigen die Besucher durchaus ein Interesse an deren Vergangenheit.

Ausstellung: «Bestandesaufnahme Gurlitt Teil 2. Der NS-Kunstraub und die Folgen», ab Donnerstag, 19. April, Kunstmuseum Bern. (Berner Zeitung)

https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/ein-auge-fuer-die-raubkunst/story/21074625
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