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Dunkles Kapitel: Ausstellung "Bücher unter Verdacht" in Göttingen

1998
1970
1945
Deutschlandradio 12 May 2012
Von Elke Drewes

Viele Universitätsbibliotheken hatten während der NS-Zeit ihre Bestände mit tausenden Büchern aufgefüllt, welche die Nazis beschlagnahmt und geraubt hatten. Nun hat die Universitätsbibliothek Göttingen ihren Bestand auf Raub- und Beuteliteratur überprüft - die Ergebnisse präsentiert nun die Ausstellung "Bücher unter Verdacht".

Manchmal arbeiten Wissenschaftler wie Detektive. Auf der Suche nach "verdächtiger Literatur" haben Historikerinnen in Göttingen große vergilbte Bücher mit Ledereinbänden durchforstet, sogenannte Zugangsbücher. Die listen alle Werke auf, die die Universitätsbibliothek in der Nazizeit erworben hat. Mehr als ein hunderttausend Einträge hat Juliane Deinert mit ihrer Mitarbeiterin überprüft.

"An diesem Zugangsbuch sehen wir als ein Beispiel, dass im Jahr 1934 das Buch eingetragen wurde, das den Titel trägt "der politische Massenstreik". Schwierig war herauszubekommen, sind diese Bücher verdächtig? Ist es NS-Raubgut? Woher kamen sie? Was macht sie verdächtig?"

Titel und Autor gaben den Ermittlerinnen erste Hinweise auf verdächtige Literatur. Denn meist handelte es sich dabei um Bücher, die die Nazis verboten hatten, also Werke von Autoren jüdischer Abstammung oder mit marxistischem oder pazifistischem Inhalt. In wissenschaftlichen Bibliotheken waren sie in separaten Räumen gelagert und konnten nur unter Aufsicht zu Forschungszwecken gelesen werden. Der Direktor der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Norbert Lossau will ein dunkles Kapitel beleuchten.

"Es ist unsere Verpflichtung, unsere Geschichte so aufzuarbeiten, dass wir alle Epochen haben, nicht nur das 18. Jahrhundert, für das wir berühmt sind, sondern auch eine Phase, die unrühmlicher ist, von 1933 bis 1945. Es ist eigentlich selbstverständlich, dass wir es tun."

In den Katalogen haben die Wissenschaftlerinnen insgesamt acht Tausend verdächtige Bücher entdeckt und genau unter die Lupe genommen. Die Mitarbeiterin der Bibliothek Silke Glitsch schlägt eines der Bücher auf: "Trotzki - 1917 die Lehren der Revolution" steht auf dem roten Titelblatt.

"Es trägt ein Geschenk- Exlibris: "Universitätsbibliothek zu Göttingen, Geschenk von Herrn Dr. Tröger Berlin."

Aus Briefen und Archivdokumenten erfuhren die Wissenschaftlerinnen jedoch, dass Dr. Tröger seine Bücher nicht aus freien Stücken der Bibliothek geschenkt hatte. Die Nazis hatten den SPD-Politiker Heinrich Tröger, der später Finanzminister in Hessen wurde, 1933 in Schutzhaft genommen. Nach seiner Entlassung schenkte er der Göttinger Universitätsbibliothek 72 Bücher mit marxistischer Tendenz, um weiterer Verfolgung zu entgehen.

Glitsch: "Nach eigenen Aussagen wollte Dr. Tröger, so steht es hier im Tagebuch, sein Ausscheiden aus der SPD untermauen und jeden Verdacht zu vermeiden."

Insgesamt konnten die Historikerinnen 600 Werke eindeutig als Raub- und Beuteliteratur identifizieren. Bei 400 weiteren besteht der Verdacht. Aber nur ein geringer Teil der Bücher gehörte Privatpersonen wie Heinrich Tröger. Der weitaus größere Teil stammt von verbotenen Parteien wie der SPD, Gewerkschaften und Arbeiterverbänden.

Glitsch: "Die Bücher sind eingezogen worden, wie es hieß, zugunsten des preußischen Staates - als Vermögen aufgelöster, verbotener Organisationen."

Bürgermeister und Landräte listeten die beschlagnahmten Bücher auf und schickten diese Listen an die Preußische Staatsbibliothek zu Berlin. Die wählte erst für ihre eigenen Bestände aus. Die restlichen Titel wurden verteilt an wissenschaftliche Bibliotheken in ganz Deutschland. Die Göttinger Universitätsbibliothek hatte ein großes Interesse an dieser Raub- und Beuteliteratur, erklärt Silke Glitsch. Denn:

"Der Etat der Universitätsbibliotheken war stark eingeschränkt, es wurde immer schwieriger, an ausländische Literatur zu kommen."

Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges bekam die Universitätsbibliothek auch Bücher aus den besetzten Gebieten und Kriegsgefangenenlagern, zum Beispiel aus Polen.

Kriegsgefangene durften zwar Bücher von Angehörigen erhalten. Aber vorher lasen Zensoren die Bücher. Ein Roman mit dem harmlos klingenden Titel "Canary, history of a family" - Kanarienvogel, Geschichte einer Familie - fiel der Zensur zum Opfer. Aus diesem Grund.

Glitsch: "Ein Titel eines österreichischen Verfassers, der verboten war, weil er jüdischer Abstammung war, also ein jüdischer Autor in englischer Übersetzung. Hier sehen wir prägnant in rotem Bleistift den Vermerk des Zensors: 'Eckstein, Jude!'"

Nicht überall ist es den Göttinger Historikerinnen gelungen, die ursprünglichen Besitzer zu ermitteln. Anders im Fall des SPD-Politikers Heinrich Tröger. Seinen Nachkommen hat die Bibliothek vor Kurzem 72 Bücher zurückgegeben. Besonders froh ist Juliane Deinert auch über diesen anderen gelösten Fall:

"Die Brüder Fischl aus Wien, da haben wir die Tochter ausfindig machen können, die sich sehr gefreut hat. Häufig ist es so, dass die Personen nur ein oder zwei Bücher haben wollen, wo der Name drauf steht. Aber der ideelle Wert ist schon wichtig für die Leute, die gar nichts mehr haben von ihren Vätern oder Großvätern, wo wir jetzt froh sind, dass wir wenigstens die Bücher zurück geben können."

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