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Der große Raub

1998
1970
1945
Frankfurter Allgemeine Zeitung 31 January 2013
Von Julia Voss

Seit Jahren wird kritisiert, dass in deutschen Museen noch immer Raubkunst lagere, zusammen mit den angehäuften Reichtümern von Hitler bis Himmler. Warum ändert sich das nicht? Wer verhindert die Aufarbeitung?

© Foto SGSM München Rudolf von Alts Aquarell wurde 1938 zwangsweise verkauft: Warum liegt es bis heute in der Staatlichen Graphischen Sammlung in München?

Als der österreichische Maler Rudolf von Alt an seinem letzten Bild arbeitete, dem „Atelier des Künstlers“, konnte er nicht ahnen, in welchem Rad der Geschichte sein Werk zermahlen werden würde. Es war das Jahr 1905, Rudolf von Alt war zweiundneunzig Jahre alt, er starb im März, sein Gemälde blieb unvollendet; dort, wo der Künstler ins Bild treten sollte, blieb ein Fleck, weiß, schimmernd, wie eine Geistererscheinung. Zu Lebzeiten zählte von Alt zu den erfolgreichsten Malern des neunzehnten Jahrhunderts, seine Leidenschaft galt seiner Heimat Österreich, deren Städte, Gebäude und Landschaften er in meisterlichen Aquarellen wiedergab. Geliebt wurde er dafür von den Österreichern - und zwar auch jenen, die Franz Joseph I. 1867 endlich politisch gleichgestellt hatte: den jüdischen Österreichern. Sie hatten das Land, das ihnen diese Rechte gewährte, zu schätzen und zu lieben begonnen, und mit ihm Rudolf von Alt.

Dann kam das Jahr 1938, der sogenannte „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, und es soll auf der Geburtstagsfeier von Rudolf Hess gewesen sein, dass Adolf Hitler bedauerte, wie wenig von Alt doch in Deutschland bekannt sei, und bat, man möge sich doch in Wien einmal nach Gemälden umsehen. In der Günstlingswirtschaft der Partei musste Hitler nicht befehlen, er konnte „bitten“; „umsehen“ hieß natürlich auch rauben, Tausende Juden waren bereits verhaftet worden, ihr Besitz beschlagnahmt. Mehr als sechshundert Bilder wurden zusammengerafft, von Alt ging danach als einer der Lieblingsmaler Adolf Hitlers in die Geschichte ein; von Alts jüdische Sammler wurden mit ihren Familien umgebracht, wenn sie nicht fliehen konnten.

Immer noch in Bayern

Warum sollte uns heute, im Jahr 2013, interessieren, wer damals Rudolf von Alt sammelte? Weil die etwa sechshundert damals zusammengetragenen Zeichnungen und Aquarelle bis heute in Staatsbesitz sind. Sie liegen in der Staatlichen Graphischen Sammlung in München. Sie sind nur ein Fall von vielen, ein Fall allerdings, der zeigt, wie ein System weiterläuft, wo die Beharrungskräfte sind, was für ein Erbe deutsche Sammlungen antreten - bis heute. Damit kein Missverständnis entsteht: Bei etwa hundertfünfzig Bildern besteht der dringende Verdacht, dass diese im Nationalsozialismus verfolgungsbedingt entzogen wurden, was bedeutet: Sie gehören Erben.

Es gibt eine Mitarbeiterin der Staatlichen Graphischen Sammlung, Meike Hopp, die über die sogenannte Rudolf-von-Alt-Aktion von 1938 forscht und geschrieben hat - in ihrer 2012 veröffentlichten Doktorarbeit „Kunsthandel im Nationalsozialismus. Adolf Weinmüller in München und Wien“. Im Falle des Aquarells „Atelier des Künstlers“ kann inzwischen fast lückenlos rekonstruiert werden, wem das Bild gehörte: einem jüdischen Großindustriellen aus Wien, selbst auch Maler, der 1944 zusammen mit seiner Frau in einem unbekannten Lager ermordet wurde, ihre Kinder konnten fliehen. Und trotzdem liegt es noch immer in Bayern, wie auch zahllose weitere Gemälde, Skulpturen, Möbel, Teppiche oder Schmuckstücke, die von den Nationalsozialisten geraubt worden waren und über die das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ in seiner aktuellen Ausgabe berichtet.

Ein Potemkinsches Dorf?

Die einzig vernünftige Frage, die sich anschließt, lautet: Wie kann das sein? 1998 unterzeichnete die Bundesrepublik neben dreiundvierzig weiteren Staaten die Washingtoner Erklärung. Die Erklärung besagt, dass „NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut zu suchen“ und „eine gerechte und faire Lösung zu finden“ sei. Kurzum: Die Deutschen Museen, die Bibliotheken und die Archive sollen ihre Bestände prüfen und zurückgeben, was zurückgegeben werden muss.

Also noch mal: Wie kann das sein? Wer bewacht diesen Schatz, wer sitzt darauf, wer verhindert die Herausgabe? Wo ist der Drache im System - sind es Museumsangestellte, Direktoren, sind es Politiker oder Ministerien? Wer es für fehl am Platze hält, in mythologische Begriffe zu verfallen, der sei erinnert, dass deutsche Museen nicht einfach nüchterne Institutionen sind, sondern dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Versprechen wurden, einer Utopie: 1949 stellte das Münchner Haus der Kunst bereits wieder den Expressionismus aus, den „Blauen Reiter“, Maler, deren Werke 1937 zentral in der Propagandaschau „Entartete Kunst“ gezeigt worden waren; 1950 hing im deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig „Der Blaue Reiter“, 1955 auf der Documenta in Kassel. Die Botschaft war eindeutig, sie ging nach innen und nach außen, an die Bevölkerung, ins Ausland, in die Welt: Die Bundesrepublik will einen Neuanfang machen. Die Kunst, die Sammlungen, die Museen verkörperten dieses Versprechen.

Raubkunst ist kein Schatz mehr

Das ist die Geschichte der Ausstellungssäle, dahinter liegen Zimmer, die die Vorderansicht wie ein potemkinsches Dorf aussehen lässt. Bereits 1948 sprach sich der Verband der Bayerischen Kunst- und Antiquitätenhändler, zu dessen Mitgliedern die größten Profiteure des nationalsozialistischen Kunstraubs gehörten, gegen eine „übereilte Restitution von Kunstobjekten aus dem Handel an die ehemaligen Eigentümer und Erben“ aus; 1952 verfassten deutsche Museumsdirektoren ein Memorandum, in dem sie die „Festsetzung eines naheliegenden Termins für den Abschluss der Restitution“ forderten und die „sofortige Einstellung aller Restitution von Objekten, die im freien Handel erworben wurden“. Viele der Unterzeichnenden arbeiteten bereits vor 1945 an Museen.

Es stimmt, die Nationalsozialisten beschlagnahmten im Zuge der „Entarteten Kunst“ Werke aus 101 Museen. Dass die Museumssammlungen aber von 1938 an zum Teil explosionsartig wuchsen, darüber wollte nach 1945 fast niemand sprechen. Die Alliierten gaben nach dem Krieg viele geraubte Werke an die Besitzer zurück; nach dem Abzug wurde der Prozess schleppend. Die Sammlungen wuchsen weiter: Von 1953 bis 1977 wurden vom Freistaat Bayern zahlreiche Objekte aus Staatsbesitz an die Museen des Landes überwiesen, die Besitztümer der ehemaligen Parteifunktionäre und der Partei. 1966 wurden 2300 Kunstwerke vom Bund auf deutsche Museen verteilt, aus ehemaligem Reichsbesitz.

Wer will so etwas heute horten? An den Museen arbeitet inzwischen eine neue Generation, im Gegensatz zu vielen Vertretern der vorangegangenen sehen sie in Raubgut keinen Schatz, im Gegenteil, sie wollen keine geraubte Kunst in ihren Häusern. Doch damit ist das Kapitel Raubkunst noch lange nicht abgeschlossen.

Fehlen von Forschungsgeldern

Warum nicht? Wieder das Beispiel Rudolf von Alt: Bis 2011 war es der bayerische Staat, der wie ein Drache diesen Schatz hütete, indem er ein Gesetz erlassen hatte, das von den Staatsmuseen verlangte, den Wert eines restituierten Objekts auf das Konto des Staatsministeriums bei der Bayerischen Landesbank zu überweisen, als „Kompensation für die Entnahme aus dem Grundstockvermögen“. Staatsmuseen mussten den Staat also entschädigen, mit Geld, das sie nicht hatten, ein absurder Vorgang. 2011 fiel das Gesetz, nachdem Mitarbeiter der Staatlichen Graphischen Sammlung an die Öffentlichkeit gegangen waren. Auch damals ging es bereits um ein Werk Rudolf von Alts, „Der alte Nordbahnhof“ von 1851. Das Bild wurde an die Erben zurückgegeben.

Klingt nach einem guten Ende? Nein, noch immer nicht. Ein Gesetz mag Restitutionen fast unmöglich machen, wirksam ist aber auch das Fehlen von Forschungsgeldern. „Spiegel-Online“ zitierte vor wenigen Tagen den CSU-Politiker Peter Gauweiler, der „größere Anstrengung bei Rückgabe von Beutekunst“ forderte. In Bayern wäre das eine absolute Neuerung: Es gibt bisher in Bayern nur eine einzige vom Freistaat bezahlte Stelle für Provenienzforschung, an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Dort soll die Kunsthistorikerin Andrea Bambi 4400 Gemälde überprüfen, ohne Mitarbeiter. Das ist nicht in jedem Bundesland so: In Dresden etwa gibt es seit 2008 das „Daphne“-Projekt, geprüft wird die Geschichte sämtlicher Objekte der staatlichen Museumssammlungen - von 40 bis 65 Mitarbeitern, Teilzeitkräfte mitgerechnet; das Geld gab die sächsische Staatsregierung. Die meisten Gelder vergibt der Bund: In Berlin überprüft etwa Harald König seit 2000 den ehemaligen Reichsbesitz, der jetzt dem Bund gehört - mit zwei festen Mitarbeitern und etwa einem Dutzend Teilzeitangestellten.

Woher kam das Geld?

Der Bund, die Berliner Arbeitstelle für Provenienzforschung, finanziert auch überwiegend die Forschungen zu Rudolf von Alt an der Staatlichen Graphischen Sammlung in München. Im Fall des hier abgebildeten „Atelier des Künstlers“ suchen die Mitarbeiter gerade aktiv nach den Erben, um das Gemälde zurückzugeben, das bayerische Staatsministerium wird aber zustimmen müssen.

Die Zahlen muss man ernst nehmen: Der Bund zahlt am meisten für Provenienzforschung, Länder wie Sachsen treiben die Forschung ebenfalls voran, Bayern hat alles auf die Schultern einer Person abgewälzt. Dabei lagert in Bayern nicht nur die meiste Raubkunst. Alts Werke in der Staatlichen Graphischen Sammlung stammen aus dem Nachlass Martin Bormanns, sie waren für die Ausstattung des Obersalzbergs vorgesehen, Hitlers Feriendomizil. Viele davon waren geraubt, viele aber auch gekauft.

Woher kam das Geld für gekaufte Objekte? Woher hatten die NS-Funktionäre das Geld für Grundstücke, Villen, Autos, Kunst, Möbel, Schmuck, Trophäen? Woher kamen die Geschenke und Stiftungen? Der Schuhschrank von Imelda Marcos ist zum Inbegriff von Korruption geworden, die brillantbesetzte Armbanduhr, die der „Spiegel“ auf dem Titelblatt abbildete und die Hitler Eva Braun schenkte, ist nicht weniger sprechend. Wie kamen Hitler, Himmler, Speer und Bormann zu ihren Privatvermögen? Wie groß war der Kreis der Profiteure? Auch um dieses System zu durchleuchten, würde es sich lohnen, endlich das Innere der Archive bayerischer Museen zu erforschen - und auch zu zeigen. „Wie sie sich bereicherten“ wäre die Geschichte, die eine solche Ausstellung erzählen würde.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/beutekunst-der-grosse-raub-12046262.html
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