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Auktionsprotokolle aus dem NS: Wo hört Diskretion auf, wo fängt die Lüge an?

1998
1970
1945
Frankfurter Allgemeine 13 April 2013
von Julia Voss

English summary below

Eine Sensation im Umgang mit Raubkunst: Im Auktionshaus Neumeister tauchten Auktionsprotokolle aus dem Nationalsozialismus auf. Das Haus will sie jetzt der systematischen Forschung zur Verfügung stellen.


Friedrich von Amerlings „Mädchen mit Strohhut“ wurde 2007 restituiert. Jetzt gibt es rund sechzig neue Fälle

Wer schon einmal ein Auktionshaus betreten hat, ein großes oder auch ein kleines, in München, Köln, Berlin, London oder Paris, der kennt die angespannte Stille, die von den Objekten auszugehen scheint, den Gemälden, Teppichen oder Möbeln, die versammelt wurden, um ihren Besitzer zu wechseln. Sie alle tragen eine Nummer, sie haben einen Schätzwert, sie wurden in einem Katalog verzeichnet. Sie scheinen auf die Auktion zu warten, die Bieter, die Gebote, das Klopfen des Hammers. Es ist die funkelnde Fassade - das, was man sieht. Doch dahinter gibt es eine Welt der Geheimnisse: Wer ein Stück einliefert oder kauft, gehört häufig zu den gehüteten Geschichten des Auktionswesens.

Es funktioniert wie ein Roman, in dem es nur eine Person gibt, die das ganze Geschehen überblickt. In der Literatur heißt diese Person der auktoriale Erzähler. Im Auktionshaus ist diese Person der Geschäftsführer: Er kennt nicht nur die Objekte, er kennt die Einlieferer, die Käufer, ihre Namen und ihre Geschichten. Diskretion ist sein Geschäft. „Diskretion“ ist ein schönes Wort, es klingt nach einer Tugend, nach jemandem, auf den man sich verlassen kann, der vertrauliche Informationen für sich behält und damit nicht hausieren geht. Einen Haken hat jedoch die Diskretion: Es gibt Umstände, in denen sie zur Lüge wird. Welche? Diese Frage stellte sich vor einigen Wochen Katrin Stoll, Geschäftsführerin und Inhaberin des Kunstauktionshauses Neumeister. Es war ein Montag, der 18. März, als ein Mitarbeiter sich meldete, weil er etwas gefunden hatte, von dem er nicht wusste, was es war.

„Ich hatte eine Leiche im Keller“

Neumeister ist ein Auktionshaus in München, es liegt fußläufig zu den großen Kunstmuseen, den Pinakotheken; jährlich durchlaufen das Haus etwa zehn- bis zwanzigtausend Objekte, allein im Haupthaus gibt es drei Lastenaufzüge. Dazu kommen zahlreiche Depots. Im Keller befindet sich ein Raum, der bisher nur den Hausmeister interessierte: der Raum für Haushaltstechnik, mit einem Schaltpult, bunten Knöpfchen und einem unscheinbaren Stahlschränkchen. Dieses Schränkchen hatte der Mitarbeiter geöffnet: Gefunden wurden vierundvierzig annotierte Auktionskataloge aus den Jahren 1936 bis 1945. „Annotiert“ heißt: mit handschriftlichen Vermerken. Und das heißt: Hier steht das, worüber in der Nachkriegszeit eisern geschwiegen wurde. Werk für Werk lässt sich nachlesen, wer ein Stück eingeliefert hat, wem es gehörte, wer es kaufte und für welchen Preis. In den gepflegten Handschriften dieser Jahre liest man zum Beispiel „Gestapo“ - oder „Gotthilf“, den Namen eines Wiener jüdischen Architekten. Kurzum: Das Schränkchen verwahrte die Provenienz von Kunstwerken, die wir heute Raubkunst nennen.


Der Katalogvermerk lässt keinen Raum für Zweifel: „Gestapo“ © Neumeister/ZI

Wäre es Diskretion oder Lüge, diese Geschichten nicht zu erzählen? Das Schränkchen wieder zu verschließen? Wer würde davon erfahren? Die Antwort auf die letzte Frage lautet: niemand. Die Antwort auf die erste Frage gibt Katrin Stoll selbst: „Ich hatte eine Leiche im Keller“, sagt sie, „diese Leiche wollte ich ans Tageslicht holen.“ Unvorbereitet traf Katrin Stoll der Fund nicht: Seit 2008 ist sie die Geschäftsführerin von Neumeister, einem Unternehmen, das bereits zuvor in Familienbesitz war. Stolls Vater, Rudolf Neumeister, hatte es 1958 übernommen, der vorherige Inhaber hieß Adolf Weinmüller. Von Weinmüller, der 1958 starb, gibt es keine Fotografie, kein Historiker weiß, wie er aussah, aber es gibt Zahlen. In den Jahren 1936 bis 1945 handelte Weinmüller etwa 34.500 Objekte über sein Stammhaus in München und die spätere Dependance in Wien. In München gab es dreiunddreißig Versteigerungen, in Wien achtzehn.

Die Geschichte muss noch einmal aufgerollt werden

Weinmüller unterhielt enge Beziehungen zur Reichskammer der Bildenden Künste, zu den Behörden und Institutionen der Devisenstelle, der Industrie- und Handelskammer und zahlreichen Kunsthändlern. Kurzum: Weinmüller war eine zentrale Figur des Kunsthandels im Nationalsozialismus. Er, der vor 1933 ein bescheidenes Unternehmen führte, stieg zum Marktführer auf, nachdem mit seiner Hilfe sämtliche jüdische Kunsthandlungen liquidiert worden waren. Weinmüller profitierte doppelt von der Judenverfolgung: Zuerst wurde seine Konkurrenz vernichtet. Dann versteigerte er, was jüdische Mitbürger verkaufen oder zurücklassen mussten, später das, was ihnen geraubt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er vollständig rehabilitiert. Ob er seine Angaben im Spruchkammerverfahren von 1947 selbst als „Diskretion“ oder „Lüge“ empfand, kann niemand wissen. Es waren Lügen, juristisch gesehen sind sie verjährt. Er könne sich an seine Kunden nicht mehr erinnern, sagte Weinmüller - und dass es keine Unterlagen aus dieser Zeit gebe. Kriegsverlust.

Und jetzt? Die Geschichte wird noch einmal aufgerollt werden müssen. Wer Raubgut kaufte, kann in den gefundenen Auktionsprotokollen nachgelesen werden. Einige Werke, die Weinmüllers Auktionshaus versteigerte, mussten bereits restituiert werden: 2007 etwa Friedrich von Amerlings „Mädchen mit Strohhut“, das bis dahin im Wiener Belvedere hing. 2012 folgte ein Gemälde von Waldmüller, eine Leihgabe im Oldenburger Landesmuseum. Beide Bilder gehörten Ernst Gotthilf, dem jüdischen Architekten, der vor den Nationalsozialisten aus Wien floh und 1950 im Exil starb. Allein der Name seiner Sammlung taucht sechsundsechzigmal in den Auktionsprotokollen auf. Die Käufer? Privatpersonen, aber auch Museen.

Andere Auktionshäuser schweigen verbissen weiter

Bereits im vergangenen Jahr erschien das glänzend recherchierte Buch „Kunsthandel im Nationalsozialismus: Adolf Weinmüller in München und Wien“. Geschrieben hat es die Kunsthistorikerin Meike Hopp, eine Mitarbeiterin des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München. Den Auftrag, die Geschichte zu erforschen, hatte ihr Katrin Stoll gegeben. Meike Hopp wird nun auch die gefundenen Auktionskataloge auswerten und veröffentlichen.

Im Umgang mit Raubkunst ist das eine Sensation: Es ist das erste Mal, dass ein Haus Auktionsprotokolle aus dem Nationalsozialismus der Forschung zur Verfügung stellt. Andere deutsche Auktionshäuser schweigen verbissen zu diesem Thema. Eine juristische Verpflichtung gibt es nicht. Nur eine moralische. Diskretion mag eine Tugend sein, Verantwortung jedoch auch eine, Geschichtsbewusstsein ebenfalls. Diskretion ist weiter das tägliche Geschäft von Katrin Stoll. Sie nimmt es sehr ernst. Lügen will sie deshalb nicht.


English Summary


Auction Protocols of the Nazi Era: Where does confidentiality stop, where does the lie begin? A sensation in the subject of looted art: In the Neumeister auction house auction protocols from the Nazi era have been discovered. The auction house would now like to make them accessible for systematic research. 

Whoever has at some time been into an auction house, whether a large or small one, in Munich, Cologne, Berlin, London or Paris, knows the tense silence to be found which seems to arise from all the objects, paintings, carpets and furniture that were assembled there for sale. They all have a number, an estimated value, they are all listed in a catalogue. They seem to wait for the auction, the bidders, the bids and the falling of the hammer. It is a sparkling facade.

However, there is a dark world of secrets behind it. Who consigns an item or purchases one is one of the best kept secrets in the auction world.

It works like a novel and there is only one person who has an overview over the events. In literature this person is called the omniscient narrator. In the auction house this person is the managing director. He does not only know the objects, he also knows the consignors, the purchasers, their names and their stories. Confidentiality is his business. "Confidentiality" is a nice word, it sounds like a virtue, like someone that you can count on, someone who keeps confidential information private and doesn't disseminate it. However, there is one problem with confidentiality. There are circumstances under which it becomes a lie. Which ones? This was a question that Katrin Stoll, managing director of the Neumeister auction house asked herself a few weeks ago. It was a Monday, 18 March, when an employee told her that he had found something but did not know what it was.

The Dead Body in the Basement

Neumeister is a Munich auction house within walking distance of the large art museums. It annually trades 10-20,000 objects each year. In the main building alone there are three freight elevators. In addition, there are numerous warehouses. In the basement there is a room which so far has only been of interest to the janitor, a room which houses technical equipment, a switchboard, colourful buttons, and a steel locker. This locker was opened by an employee who disovered 44 annotated auction catalogues from the years 1936-1945. Annotated means they bear handwritten notations and this means that what is listed is what was stubbornly not talked about in the post-war era. You can read item by item who consigned them, who owned them, who bought them and for what price. In well-styled handwriting of that era you can read "Gestapo" or "Gotthilf" the name of a Vienna Jewish architect. In short the cabinet contained the provenance of artworks we today call looted art. Would it be confidentiality or lie not to tell this story? To close the locker again? Who would ever know? The answer to this is no one. The answer to the first question is given by Katrin Stoll herself. "I had a dead body in the basement," she says, "I wanted to bring it into the daylight". This discovery did not catch her by surprise. Since 2008 she has been the managing director of Neumeister, the company that was previously family owned. Her father, Rudolf Neumeister, had taken it over in 1958. The former owner was Adolf Weinmüller. Of Weinmüller, who died in 1958, there are no photographs. No historian knows what he looked like. But there are numbers. In the years 1936-1945 Weinmüller dealt with about 34,500 objects from his main auction house in Munich and later his branch office in Vienna. In Munich there were 33 auctions, in Vienna 18.

History must be re-examined

Weinmüller maintained a close relationship with the Reichkammer für Bildende Kunste, with the Foreign Currency Office, with the Chamber for Industry and Trade and numerous art dealers. In short, Weinmüller was a central figure in the art trade during National Socialism. He led a modest enterprise before 1933, then rose to become the market leader. With his help, all Jewish art dealers were liquidated. Weinmüller profited in two ways from the persecution of the Jews. First, his competitors were wiped out. Then he auctioned off what Jewish citizens had to sell or left behind, and later he sold what was stolen from them. After World War II he was fully rehabilitated. Whether he saw his statements during the proceedings of 1947 as confidentiality or lies no one knows. From a legal standpoint they were lies, and the statute of limitations has expired. He was unable to recollect his customers and said there were no surviving records from that time, they were lost in the war. And now? History will have to be re-examined. Who purchased looted property can be seen in the discovered auction protocols. Some works which were auctioned off by Weinmüller have already been restituted. In 2007, for example, Friedrich Amerling's Maedchen mit Strohut, which was at the Belvedere, Vienna, until then. In 2012 a painting by Waldmüller, a loan to the Oldenburg Landesmuseum. Both were owned by Ernst Gotthilf, a Jewish architect who had to flee from the Nazis in Vienna and who died in exile in 1950. His name appears 66 times in the auction protocols. The buyers are private individuals and also museums. 

Other auction houses stubbornly refuse to talk

Last year the brilliantly researched book, 'Kunsthandel im Nationalsocialsmus:Adolf Weinmüller in München und Wien'  was published. It was written by art historian Meike Hopp, an employee of the Central Institute for Art History in Munich (ZIKG). The stimulus to research this history was given by Katrin Stoll. Meike Hopp will now also assess and publish the auction catalogues.

In the question of looted property this is a sensation: it is the first time that an auction house has released auction protocols from the Nazi era for research. Other German auction houses still stubbornly refuse to talk about this subject. There is no legal obligation to do so, only a moral one. Discretion or confidentiality may be a virtue, but taking responsibility is also one, the awareness of history also. Confidentiality remains the daily business of Katrin Stoll. She takes it very seriously, that's why she does not want to lie.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunstmarkt/auktionen/auktionsprotokolle-aus-dem-ns-wo-hoert-diskretion-auf-wo-faengt-die-luege-an-12146903.html
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