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Raubkunst aus Osteuropa Nehmt mit, was ihr tragen könnt - Loot from Eastern Europe - take what you can wear

1998
1970
1945
Frankfurter Allgemeine 4 July 2017
von Corinna Kuhr-Korolev

Wehrmachtssoldaten plünderten an der Ostfront und nahmen nicht nur Kleidung und Nahrung, sondern auch „Souvenirs“ mit. Wie viel geraubtes Kulturgut aus Osteuropa befindet sich in deutschen Haushalten? Ein Gastbeitrag.

Schlossmuseum Gatschina Zurückgegeben: Eine Hamburgerin übergab 2014 die Ikone „Verkündigung“ ans Schlossmuseum Gatschina.

Überbleibsel aus der NS- und Kriegszeit gibt es vermutlich in fast jedem deutschen Haushalt. Dazu gehören Dinge, die während des Zweiten Weltkrieges auf unterschiedliche Weise den Besitzer wechselten. Die Künstlerin Maria Eichhorn formuliert mit ihrem Projekt „Rose-Valland-Institut“ ... den Anspruch, „die Enteignung der jüdischen Bevölkerung Europas und deren Nachwirkungen bis in die Gegenwart“ zu erforschen und zu dokumentieren. In einem Open Call hat sie die Öffentlichkeit aufgefordert, Informationen zu Objekten, auch zu Grundbesitz oder Immobilien, bei denen ein NS-Raubgutverdacht besteht, an ihr „Institut“ weiterzugeben. Man werde dann dokumentieren, recherchieren, diskutieren und restituieren. Bis zum 17. September ist Zeit, denn bis dahin hat das Institut seinen Sitz in der Neuen Galerie in Kassel.

Ist das Vorhaben überambitioniert oder künstlerische Provokation? Die im Fall Gurlitt eingerichtete Taskforce mit siebzehn Mitgliedern und dreißig externen Experten konnte nach zwei Jahren Recherche im Januar 2016 von 499 Bildern, bei denen ein Verdacht auf „NS-verfolgungsbedingten Entzug“ bestand, bei elf Bildern die Provenienz abschließend klären. Nur eine Handvoll Werke wurde bislang restituiert. Provenienzforschung ist also mühsam, zieht komplizierte juristische Fragen nach sich und sollte professionell betrieben werden.

Die breite Spanne der Profiteure

Wahrscheinlich geht es bei dem Projekt von Maria Eichhorn also um etwas anderes: deutlich zu machen, dass von der Enteignung der jüdischen Bevölkerung viele profitierten. Nicht nur NS-Bonzen, Großkonzerne und die deutschen Museen mit ihren Sammlungen, sondern auch ausgebombte Familien, die in Möbellagern Ersatz für den Hausstand suchten oder Bibliophile, die sich langgehegte Bücherwünsche im Antiquariat erfüllen konnten. Mit der Betrachtung auch der Dinge des Alltags, die den Besitzer wechselten, betrifft das Thema „NS-verfolgungsbedingter Entzug“ plötzlich fast jeden. Es fällt dann schwerer, sich selbstgewiss der allgemeinen öffentlichen Entrüstung und den schnell gefassten moralischen Urteilen wie im Fall Gurlitt anzuschließen.

Wenn das Eichhornsche Projekt zum Umdenken aufrufen will, dann wundert man sich, warum nicht auch nach der Übernahme des Eigentums anderer verfolgter Bevölkerungsgruppen, besonders in Osteuropa und der Sowjetunion, gefragt wird. Der Krieg gegen die Sowjetunion war von vorneherein als Ausbeutungs- und Vernichtungskrieg gedacht. Die slawischen Menschen galten als Untermenschen, deren Vernichtung zwar nicht explizit geplant, aber einkalkuliert wurde. Die Opferzahl von mehr als zehn Millionen Toten in der sowjetischen Zivilbevölkerung spricht für sich. Was die Kunstschätze und Kulturgüter dieser Region betrifft, so gab es zu keinem Moment Zweifel oder Skrupel, dass sie, wie Rohstoffe und andere Ressourcen auch, dem deutschen Reich unbegrenzt zur Verfügung stehen würden.

Es ist aber kein Zufall, dass die Eigentumsverluste der Menschen in den besetzen Ländern Osteuropas für die Arbeit des „Rose-Valland-Instituts“ nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dies entspricht vielmehr der öffentlichen Wahrnehmung des NS-Kulturgüterraubs, wie sie sich seit den 1990er Jahren entwickelt hat. Begrifflich hat sich eine Unterscheidung zwischen „NS-Raubkunst“ und „Beutekunst“ beziehungsweise „kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern“ durchgesetzt, aus der eine unterschiedliche Behandlung von Objekten, die im Krieg unrechtmäßig den Besitzer wechselten, folgt. Der erste Begriff wurde – vermutlich, weil die Praxis der Provenienzforschung es erforderte – noch präzisiert und auf „NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut, insbesondere aus jüdischem Besitz“ erweitert.

Documenta 14: Bücher jüdischer Eigentümer, welche 1943 unrechtmäßig in den Besitz der Berliner Stadtbibliothek gelangten.

Der Begriff „Beutekunst“ hat eine andere Geschichte. Er bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch die deutschen Kunst- und Kulturgüter, die von sowjetischen Trophäenbrigaden nach Kriegsende in die Sowjetunion gebracht wurden. Als in den frühen neunziger Jahren mit Russland über die Frage verhandelt wurde, wie mit diesen Kulturgütern umzugehen sei, fand sich aus diplomatischen Gründen eine sprachliche Regelung: aus dem anschuldigenden Begriff „Beutekunst“ wurde das neutral klingende „kriegsbedingt verlagerte Kulturgut“. Damit ließ sich auf die Kriegsverluste beider Länder verweisen, mit denen in Zukunft auf gleiche Weise verfahren werden sollte.

Schieflage der Betrachtung

Die Verhandlungen kamen 1997 zum Stillstand. Während sich die russische Seite auf den Standpunkt versteifte, die deutschen Kunstwerte seien ein gerechter Ausgleich für die erlittenen Kriegsschäden, dominierte in Deutschland ein juristischer Blick auf die Angelegenheit. Der historische Kontext wurde in der deutschen Sicht immer mehr ausgeblendet und auf die das Völkerrecht verletzende Verlagerung deutschen Kulturguts verwiesen. Die Schieflage ist offenkundig: In Deutschland liegt die Aufmerksamkeit fast gänzlich auf den deutschen Verlusten, die jetzt immer häufiger wieder kurz als „Beutekunst“ bezeichnet werden.

Dass der Kulturgutraub und die Kulturzerstörung in der Sowjetunion aus dem Blick gerieten, lag auch daran, dass die Forschung sich auf den staatlich organisierten Kunstraub konzentrierte. Was der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, das Sonderkommando Künsberg oder das „SS-Ahnenerbe“ abtransportiert hatten, ließ sich zumindest teilweise durch die archivalische Überlieferung nachvollziehen. Ebenfalls belegt ist, dass Teile dieser Bestände nach 1945 restituiert wurden. Deshalb sind selbst Fachleute der Meinung, dass sich in deutschen Sammlungen keine Kunstgegenstände, Archivalien oder Buchbestände ehemals sowjetischer Provenienz mehr befänden. Das Problem scheint sich also erledigt zu haben. Tatsächlich aber ist es lediglich marginalisiert worden, und zwar auf zwei Ebenen. Einerseits auf der begrifflichen, weil die Kategorie „kriegsbedingt verlagert“ den Raub nicht thematisiert, sondern neutral eine übliche Kriegsfolge beschreibt, die alle Kriegsparteien betrifft. Andererseits auf der faktischen Ebene, weil behauptet wird, es gäbe keine Objekte mehr, die es aufzuspüren gelte.

Gold und Pelz gegen Tabak und Brot

Beide Argumente stimmen jedoch nur bedingt. Zwar gibt es wahrscheinlich keine großen zusammenhängenden Sammlungsbestände aus Osteuropa mehr zu entdecken, gleichwohl tauchen regelmäßig Gegenstände russischer, ukrainischer oder auch polnischer Provenienz, meist aus Privatbesitz, im Kunsthandel auf. Die Herkunftsgeschichten lassen Zweifel aufkommen, ob der Begriff „kriegsbedingt verlagert“ zutreffend ist. In den meisten Fällen geht es um persönliche Aneignung, die nur im Rahmen der spezifischen Kriegsführung im Osten möglich war, zu der die Entrechtung, das Aushungern und die Ausbeutung der Zivilbevölkerung gehörten.

Im Spätsommer 1942 erlaubte eine Anordnung, dass „Wehrmachtsangehörige, die aus den besetzten Gebieten in das Reich fahren, so viele Lebensmittel, Genussmittel und Tabakwaren mit sich führen dürfen, soweit sie es selbst tragen können.“ Offiziell war Plünderung natürlich verboten, aber gleichzeitig sollte sich die Truppe aus dem Land versorgen und hatte das Recht, alles, was sie benötigte, zu konfiszieren. Das ließ einen Spielraum, den die Soldaten nutzten. Neben Lebensmitteln und Kleidung fand alles Interesse, was sich als Souvenir eignete. Dabei wechselten die Gegenstände oft auch gegen Geld, Brot oder Zigaretten ihre Besitzer. Den Besatzern schien dies ein legaler Weg des Erwerbs, wenngleich sie angesichts der Notlage der Bevölkerung die Preise diktierten.

Mit Verwunderung und Abscheu berichtete Lidia Ossipowa in ihrem „Tagebuch einer Kollaborateurin“ von den kleinen Diebstählen der Soldaten, die in die Wohnungen eindrangen und nahmen, was sie gerade vorfanden. „Besonders kaufen sie Gold und Pelz gegen Tabak und Brot. Für einen Pelzmantel geben sie zwei Laibe Brot und ein Päckchen Zigaretten. Aber sie bezahlen. Bis zur Lächerlichkeit stürzen sie sich gierig auf irgendwelchen Trödel. Da hast Du Dein reiches Europa. Kaum zu glauben.“ Distanz und Ironie der Aufzeichnungen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Winter 1941/42 in Puschkin bei Leningrad, wo Ossipowa ihre Beobachtungen aufschrieb, der Verkauf persönlicher Habseligkeiten gegen Brot die letzte Chance war, dem Hungertod zu entgehen. Die Zahl der Hungertoten lag trotzdem bei geschätzt 10.000 Menschen allein in Puschkin.

Neben dem Diebstahl von Alltagsgegenständen und dem Handel mit ihnen gab es auch Plünderungen in größerem Maßstab. Im Bereich der Heeresgruppe Nord wurde ein Offizierskorps im Dezember 1941 darauf hingewiesen, dass „in Zukunft Wagenräder, Pferdeschlitten, Schränke, Flügel oder Holzhäuser (zerlegt oder im Ganzen) zum Transport in die Heimat nicht mehr angenommen werden“. Aus einer Kirche in Peterhof soll ein Wehrmachtsangehöriger eine ganze Ikonostase abgebaut und weggebracht haben. Das „Florentiner Mosaik“ aus dem Bernsteinzimmer verfrachtete ein gewisser Achtermann, Leiter eines Transportkommandos, in einen Lkw und brachte es nach Deutschland. Das einzigartige Stück tauchte 1997 in Bremen auf, als der Sohn Achtermann versuchte, es zu verkaufen. Auch die wundertätige Maria-Schutz-Ikone von Pskow, die einen sehr hohen Wert darstellt und 2000 nach Russland restituiert wurde, befand sich in deutschem Privatbesitz in Berchtesgaden. Alles deutet darauf hin, dass sie unmittelbar nach der Einnahme der Stadt Pskow aus dem dortigen Museum entwendet worden war.

Die meisten Objekte jedoch, die in den vergangenen Jahren zurückgegeben werden konnten, waren weniger bedeutend. Den Familienüberlieferungen zufolge hatten die Männer, Väter oder Großväter sie aus brennenden Häusern oder überschwemmten Kellern gerettet. In vielen Fällen mag dies vorgeschoben sein und der Entlastung der Kriegsteilnehmer gedient haben. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass die rücksichtslose Kriegsführung die Zerstörung von Museen, Kirchen und Schlössern nach sich zog und Kunstwerke, Bücher und Archivalien ungeschützt herumlagen. Mitnahme bedeutete deshalb tatsächlich in vielen Fällen Rettung. Vollendet ist diese aber nur mit der Entscheidung zur Rückgabe der Gegenstände an ihren Herkunftsort.

Späte Einsicht

Zu dieser Einsicht gelangten in den letzten Jahren immer wieder Erben solcher „geretteter“ Kunstwerke. Eine Hamburgerin übergab 2014 die Ikone „Verkündigung“ mit einer Widmung für die Zarin Maria Fjodorowna persönlich ans Schlossmuseum Gatschina. Die Witwe des Bauhaus-Künstlers Otto Hofmann entschloss sich in demselben Jahr zur Rückgabe eines Konvoluts privater Fotografien der Zarenfamilie, die der Maler in Gatschina an sich genommen hatte. Das Schlossmuseum Zarskoje Selo zeigte zum 70. Jahrestag des Kriegsendes in einer Ausstellung eine Reihe kleinerer restituierter Objekte und thematisierte anhand privater Fotografien die Kriegsgeschichte der deutschen Soldaten, die sie mitgenommen hatten.

Vergegenwärtigt man sich die Zahl von bis zu zehn Millionen deutschen Soldaten, die an der Ostfront im Einsatz waren, dann lässt sich ermessen, in welchem Umfang und auf welch unterschiedlichste Weise Dinge jenseits des staatlich organisierten Kulturgüterraubs ihre Besitzer wechselten. Es gibt also genug Anlass, gründlicher als bisher über die Beraubung der osteuropäischen Bevölkerungen nachzudenken und familiäre Andenkenstücke oder inventarisierte Sammlungsbestände entsprechend zu betrachten.

Zweifel sind angebracht, ob die begriffliche Trennung zwischen „NS-verfolgungsbedingt entzogenen“ und „kriegsbedingt verlagerten“ Kulturgütern hilfreich und gerechtfertigt ist oder doch dazu dient, bequeme Denkmuster zu erhalten, ob sie nicht vielleicht sogar die diskriminierende Vorstellung der NS-Ideologie über die Minderwertigkeit osteuropäischer Kunst und Kultur fortschreibt. Gelänge es dem Kunstprojekt von Maria Eichhorn, zu einem Weiterdenken in die skizzierte Richtung anzuregen, könnte es seinem Anspruch gerecht werden, „aktiv an der Aufklärung andauernden Unrechts“ mitzuwirken und ein Problem zu thematisieren, das tatsächlich „bislang nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert ist“.

Die Autorin ist Osteuropahistorikerin und Kuratorin und lebt in Berlin.

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