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Ein Gemälde zeigt seine Wunde - A painting shows its wounds

1998
1970
1945
Staatsanzeiger Baden Wuerttemberg 10 November 2017
A report by Dr Anya Heuss, Director of Provenance Research at the Staatsgalerie Stuttgart

Die Provenienzforschung an der Staatsgalerie Stuttgart klärte das Schicksal von Willi Baumeisters „Seilspringerin“

„Provenienz“ bezeichnet die Herkunft. Bei der Provenienzforschung geht es vor allem um die Frage, ob ein Museum Werke besitzt, die in der Zeit des Nationalsozialismus unrechtmäßig entzogen wurden. In der Staatsgalerie Stuttgart sucht eine Provenienzforscherin systematisch nach Geschichten „hinter den Bildern“. Dazu dreht sie die Werke um – und siehe da: Auch die Rückseite kann zu spannenden Erkenntnissen führen.

Die „Seilspringerin“ von Willi Baumeister wurde 1971 vom Kultusministerium des Landes Baden-Württemberg als Dauerleihgabe der Staatsgalerie Stuttgart übergeben. Bereits damals fiel auf der Rückseite ein tiefer Schnitt auf, der von den Restauratoren der Staatsgalerie stabilisiert werden musste. Wann und wodurch dieser Schnitt entstanden war, war zu diesem Zeitpunkt unbekannt.

Erst die Recherchen zur Herkunft dieses Gemäldes brachten im Rahmen der Provenienzforschung die überraschende Erklärung für diese Beschädigung: Das Bild stammte aus der Sammlung von Julius Schottländer, der in der Pogromnacht am 10./11. November 1938 in Mainz in seinem Haus überfallen worden war. Er besaß mehrere Gemälde von Willi Baumeister, die bei dem Überfall von randalierenden SS-Mitgliedern beschädigt und zerstört wurden. Dazu gehörte auch die „Seilspringerin“.


Die Rückseite der „Seilspringerin“ mit dem trotz Restaurierung noch deutlich sichtbaren Schnitt.

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Ebenfalls 1938 wurde ein Wandbild von Willi Baumeister in Waiblingen zerstört – mit einer ähnlichen gymnastischen Szene. Hier erfahren Sie mehr.

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Julius Schottländer (1887 – 1953) war ein Kaufmann jüdischer Herkunft in Mainz, der zeitgenössische Kunst sammelte. Er war mit dem Stuttgarter Sammler Hugo Borst (1881 – 1967) bekannt und mit dem Schweizer 

Maler Otto Meyer-Amden (1885 – 1933), einem Meisterschüler von Adolf Hölzel, befreundet. Etwa 1929 lernte er Willi Baumeister (1889 – 1955) in Stuttgart kennen. Der gebürtige Stuttgarter Willi Baumeister hatte an der Kunstakademie in Stuttgart studiert und war dort ein Schüler Adolf Hölzels gewesen. 1927 war Baumeister an die Frankfurter Kunstgewerbeschule (die spätere Städelschule) berufen worden und leitete dort von 1928–33 die Klasse für Gebrauchsgrafik, Typografie und Stoffdruck. Auch als der Künstler 1933 aus politischen Gründen aus seinem Frankfurter Amt entlassen wurde und nach Stuttgart zurückkehrte, hielten Schottländer und Baumeister bis zum Tod Schottländers 1953 den Kontakt aufrecht.

Im Holocaust wurde Julius Schottländers Schwester Selma Schottländer ermordet. Er selbst konnte mit seiner Frau emigrieren, musste aber vor seiner Ausreise in die Schweiz im Jahr 1939 zahlreiche verfolgungsbedingte Vermögensverluste hinnehmen. So legte das Finanzamt Emigranten wie ihm diskriminierende Abgaben wie die Reichsfluchtsteuer und die Judenvermögensabgabe auf, außerdem musste er im Frühjahr 1939 alle Edelmetalle in seinem Besitz abliefern. Er sah sich außerdem gezwungen, seine Geschäftsanteile an der Firma Paul Richter GmbH abzugeben. Hinzu kam die Zerstörung seiner Villa in der Kapellenstraße 27 in Mainz-Gonsenheim samt Mobiliar und Kunstwerken in der Pogromnacht am 10./11. November 1938. In einem Wiedergutmachungsverfahren nach 1945 bezifferte er den Schaden durch Zerstörung und Diebstähle in dieser Nacht auf 41.500 RM. Leider fehlt in den Akten eine genaue Auflistung der Kunstwerke, sodass eine Rekonstruktion der Sammlung zur Zeit nicht möglich ist.

Kurz vor der Emigration verkaufte Schottländer seine Mainzer Villa an das Deutsche Reich, sie wurde daraufhin vom Heer genutzt. Der Kaufpreis von 26.000 RM wurde auf ein Sperrkonto bei der Dresdner Bank überwiesen, über das Schottländer bis auf einen Sockelbetrag von 2.200 RM nicht frei verfügen konnte. Die schwierigen Verhandlungen mit den nationalsozialistischen Behörden führte sein Steuerberater Dr. Emil Kraus (1893 – 1972) in Mainz. Kraus war von 1931 bis 1933 Bürgermeister der Stadt Mainz gewesen und beriet nach seiner von den Nationalsozialisten erzwungenen Absetzung als Steuerberater viele jüdische Verfolgte. Emil Kraus konnte kleinere Beträge aus diesem Vermögen zur Unterstützung von Verwandten Schottländers einsetzen. Drei Jahre nach der Emigration Schottländers beschlagnahmte das Finanzamt Mainz das restliche Kapitalvermögen im Inland.

Bei seiner Ausreise in die Schweiz gelang es Schottländer, einige Kunstwerke mit in die Emigration zu nehmen, darunter auch die im November 1938 zerstörte „Seilspringerin“. Zuvor hatte er dieses Bild und das „Mauerbild“ noch restaurieren lassen. Dies geht aus seinem Briefwechsel mit Willi Baumeister und aus dessen Tagebucheinträgen hervor. Denn Baumeister erhielt die zerstörten Teile des „Mauerbildes“ am 10. Mai 1939. Der Künstler schrieb in sein Tagebuch: „Schott sendet aus seiner Sammlung ein zerstörtes Mauerbild zur ev. Weiteren Restaurierung; er ließ es restaurieren. Es ist, vielleicht auch durch die Rest., unkenntlich und völlig Ruine. Es war eines meiner besten Stücke aus der Zeit 1920/21.“ Nach Auskunft des Willi-Baumeister-Archivs in Stuttgart hat Baumeister das Bild selbst nicht weiter restauriert, da er die Schäden zu gravierend fand. Das Bild befindet sich heute im Besitz der Familie.

Auch die beiden Söhne des Sammlers, Franz Otto (später Frank O. Schottländer) und Bernhard Moritz (später Bernard Schottlander) konnten ins sichere Ausland fliehen. Bernhard Schottländer (1924 – 1999) verschlug es 1939 als Jugendlichen nach Leeds in Großbritannien, er arbeitete dort als Schweißer und besuchte Abendkurse in Bildhauerei. In Briefen an Willi Baumeister hatte sein Vater wiederholt die frühe künstlerische Begabung seines Sohnes erwähnt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges studierte Bernard Industriedesign in London und wurde später ein bekannter Bildhauer in Großbritannien.

Nach Kriegsende stellte Schottländer von der Schweiz aus Wiedergutmachungsanträge; Mainz befand sich nun in der französischen Besatzungszone. Sein ehemaliger Steuerberater Emil Kraus war 1945 von der Besatzungsmacht zum Oberbürgermeister ernannt worden, gleichzeitig vertrat er weiterhin Schottländer als Steuerberater und als Zeuge in den Wiedergutmachungsverfahren. Nach längeren Verhandlungen restituierte das neu entstandene Land Rheinland-Pfalz das Grundstück in Mainz-Gonsenheim 1951 gegen Erstattung des damaligen Kaufpreises. Bei einer gemeinsamen Besichtigung der Villa 1952 stellten alle Beteiligten erstaunt fest, dass das Haus trotz der Plünderung in der Pogromnacht, der „Arisierung“ durch das Deutsche Reich und der Einquartierung der französischen Besatzung nach 1945 noch intakt möbliert war und dass es sich dabei um Möbel aus dem Eigentum Schottländers handelte.

Im Nachlass von Willi Baumeister, der sich im Kunstmuseum in Stuttgart befindet, kann man den Schriftwechsel zwischen dem Künstler und Julius Schottländer einsehen. Er beginnt mit einem Schreiben Schottländers an Baumeister am 31. Juli 1929 mit dem Wunsch, ein Bild von Baumeister zu erwerben. Gleichzeitig kündigte er seinen Besuch bei Baumeister in Frankfurt an. Laut Tagebuch des Künstlers erwarb Schottländer dann im Oktober 1930 drei Gemälde von Baumeister: die „Seilspringerin“ sowie ein „Mauerbild mit Streifen“ von 1920 und einen „Sitzenden mit roter Jacke“. Die „Seilspringerin“ war 1930 sowohl im Deutschen Pavillon der XVII. Biennale in Venedig als auch im Haus Corbusier in der Weissenhofsiedlung in Stuttgart ausgestellt gewesen. In Stuttgart sah Schottländer das Bild und erwarb es kurz darauf. Insgesamt besaß Schottländer mindestens fünf Gemälde von Willi Baumeister, die er alle in die Emigration retten konnte.

Auch nach der Emigration hielten beide den Kontakt miteinander, jedoch war eine persönliche Begegnung erst lange nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder möglich. Baumeister besuchte die Schottländers, die er laut einer Tagebuchnotiz seit der Emigration 1939 nicht mehr gesehen hatte, 1951 in Luzern. Schottländer, der in der Schweiz keine Arbeitserlaubnis hatte, sondern nur geduldet wurde, plante 1946, in die USA auszuwandern und bot dem Künstler an, ihn dort als Agenten zu vertreten. Willi Baumeister ging jedoch nicht darauf ein, und die Pläne zur weiteren Emigration zerschlugen sich.

Nach dem Tod von Julius Schottländer 1953 erbte seine Witwe Gertrud Schottländer, geborene Nußbaum, die Sammlung. 1955 fragte sie Baumeister, ob und zu welchem Preis sie ihre/seine Werke verkaufen könnte. Baumeister antwortete ihr am 14. August 1955: „die grosse gymastische szene oder ,seilspringerin‘ habe ich aus dem gedächtnis nie verloren. Kaum war es im haus schottländer, als ich sehr kritisch gegen meine Arbeit wurde und dies ist heute immer noch so. ihr lieber mann wollte nichts von meiner kritik hören. So bildet das bild weiterhin einen ,dunklen punkt‘ in meinem werk, - weil es noch existiert.“

Hier deutet sich schon an, dass der Künstler aus stilkritischen Überlegungen heraus das Bild am liebsten vernichtet hätte. Die „Seilspringerin“ stammte aus einer Serie von Sportbildern, die Baumeister selbst für eine Fehlentwicklung in seinem Werk hielt. Baumeister bot der Witwe an, das Bild selbst zurückzukaufen und „aus der Welt zu schaffen aus rein kritischen Gründen“. Aus ganz anderen Motiven als die Nationalsozialisten wollte Baumeister dieses Bild aus seinem Oeuvre und damit aus dem öffentlichen Gedächtnis tilgen. Frau Schottländer reagierte auf diesen Brief etwas beleidigt – immerhin ging es für sie um Vermögenswerte und weniger um künstlerische Bewertungen. Später gab sie das Bild in den Münchner Kunsthandel, wo es das Kultusministerium des Landes Baden-Württemberg 1971 für die Staatsgalerie Stuttgart erwarb.

Ein Beitrag von Dr. Anja Heuß in Momente 4|2017.

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