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Stadtmuseum Wittenberg Julius Riemer, der Nazifreund? - Wittenberg City Museum: Julius Reimer, friend of the Nazis?

1998
1970
1945
Mitteldeutsche Zeitung 4 January 2019
 

Im zweiten Obergeschoss des Museums, „Riemers Welt“, ist auch das Arbeitszimmer des Sammlers nachempfunden worden. Derzeit steht einmal mehr Julius Riemers Rolle während der Nazi-Zeit zur Debatte.

Wittenberg -

Nur Tage nach seiner Eröffnung am 21. Dezember hat das neue Wittenberger Stadtmuseum einen ersten kleinen Skandal. Losgetreten hat ihn der Berliner Journalist und Yoga-Lehrer Mathias Tietke, der sich als gebürtiger Wittenberger auch mit der Geschichte seiner alten Heimatstadt befasst, gerne mit allem außer Luther, wie auch ein Buch von ihm heißt.

„Komplett ausgeblendet“

Tietke hat bei seiner neuesten Intervention Julius Riemer auf dem Kieker. Dem Sammler und dessen Sammlung ist im Zeughaus eine eigene Etage gewidmet, das zweite Obergeschoss. Es geht nicht um die so genannten Inka-Mumien, die in der neuen Ausstellung nur noch ein bisschen verschämt in einer verborgenen Ecke präsentiert werden.

Tietkes Kritik zielt auf Riemer persönlich beziehungsweise auf dessen biografische Darstellung in der Schau: „Die für Riemer bedeutsame Zeitspanne von 1933 bis 1945 wurde und wird komplett ausgeblendet“, kritisiert Tietke. „Somit findet sich auch kein Wort zu Riemers Engagement und Zusammenarbeit für bzw. mit dem SS-Ahnenerbe, seine gute Beziehung zu Hermann Göring und seine finanzielle Förderung von NS-Expeditionen wie z. B. jene des Otto Schulz-Kampfhenkel.“

Die Vorwürfe selbst - also Riemers angebliche Nazi-Nähe - sind nicht neu und waren beispielsweise vor sieben Jahren, anlässlich eines Gutachtens, ausführlicher Gegenstand der lokalen MZ-Berichterstattung. Darin ging es insbesondere um Riemers führende Position und Rolle im reichsweiten Verband der Höhlenforscher.

Ebenfalls vermisst der Hobby-Historiker Tietke, der bei der Gelegenheit auch den Säulenheiligen des Kirchlichen Forschungsheimes Otto Kleinschmidt einen „Hitlerverehrer und Rassenforscher“ nennt, in der Ausstellung einen ausdrücklichen Verweis auf ein Hobby Riemers.

Dieser sei „leidenschaftlicher Großwildjäger und Trophäensammler gewesen. „Aus meiner Sicht müssen solche Dinge thematisiert werden!“, beklagt Tietke in seiner Mail an die MZ-Redaktion.

Was erfährt der Besucher in der neuen Ausstellung über die Person Julius Riemer? Nun, überbordend viel ist es derzeit in der Tat nicht. Das Licht fällt in einzelnen Facetten auf den 1880 geborenen Berliner und späteren Wahlwittenberger. Wie er als Kind den Kopf seines toten Hundes wieder ausbuddelte, um ihn genauer zu untersuchen.

Wie die Villa aussah, in der die Fabrikantenfamilie Riemer in Weißensee lebte. Später dann eine eindrückliche Trophäenschau in der Tempelhofer Wohnung. Und schließlich: der „Neubeginn in Wittenberg“ im Jahre 1948, eben auf Einladung von Kleinschmidt.

Eines der wenigen Text-Bild-Täfelchen ist auch Riemers Rolle in verschiedenen naturwissenschaftlichen Gesellschaften ab den „1930ern“ gewidmet. Ein Briefausriss von 1941 handelt vom offenbar kostspieligen Erwerb eines Bartgeiers in Albanien.

Wie viele zusätzliche Informationen über Riemers Engagement in diesen politisch hoch brisanten Zeiten sich wohl hinter „R09“ verbergen mögen? Nun, die Hörstation, auf die diese Buchstaben-/Ziffernfolge verweist, sie ist - wie alle anderen zu allen anderen Themen - noch nicht installiert. Wie vor der Eröffnung berichtet, soll dies erst in den nächsten Wochen geschehen.

Die Stadt Wittenberg, die in der Angelegenheit inzwischen ebenfalls Post von Tietke bekommen hat, weist dessen Kritik an der biografischen Darstellung Riemers zwischen 1933 und 1945 nicht zurück. Allerdings verweist sie auf die noch ausstehende Provenienzforschung, in deren Verlauf auch diese Fragen geklärt würden.

„Wir wollen das untersuchen“, versicherte Stadt-Sprecherin Karina Austermann. „Wir wissen, dass es noch Fragen zu unserer Ausstellung gibt.“ In Kürze werde der, wie sie sagte, umzugshalber unterbrochene Prozess fortgesetzt und dann werde wo nötig in der Ausstellung „nachjustiert“. Eine entsprechende Stelle für die Provenienzforschung sei bereits ausgeschrieben worden.

Unzeitgemäßes Panoptikum?

Der wissenschaftliche Beirat, der die Neukonzeption des Wittenberger Museums begleitete, hatte - woran Austermann jetzt einmal mehr erinnerte - der Stadt Wittenberg dringend empfohlen, Provenienzforschung zu betreiben.

Die ist bekanntlich nicht erst seit heute allgemein ein Muss im Museumswesen, insbesondere um die legale oder nicht legale Herkunft von Stücken zu klären. Auch das - von Mathias Tietke nebenbei als „anachronistisches Panoptikum“ geschmähte - Riemer-Geschoss bleibt also möglicherweise nicht so, wie es sich derzeit präsentiert.

1500 Besucher hatten das neue Haus zur Eröffnung sehen wollen, auch in den Tagen danach sei die Resonanz „sehr gut“ gewesen, teilte die Stadt in dieser Woche auf MZ-Anfrage mit. Am ersten Arbeitstag im neuen Jahr war davon nichts zu spüren.

Ruhig war’s im Zeughaus, der Besucher hatte Julius Riemer, dessen Tiere und dessen Menschen ganz für sich. Vor 70 Jahren, 1949, wurde seine im Vorjahr nach Wittenberg umgezogene Sammlung im Schloss erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. (mz)

https://www.mz-web.de/wittenberg/stadtmuseum-wittenberg-julius-riemer--der-nazifreund--31825826
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