Zitator: „Im Osten leben noch etwa sechs Millionen Juden. Die Judenfrage ist für Deutschland erst gelöst, wenn der letzte Jude das deutsche Territorium verlassen hat und für Europa, wenn kein Jude mehr bis zum Ural auf dem europäischen Kontinent steht.“
Rosenberg war Hitlers wichtigster rassistischer und antisemitischer Vordenker. Seine Mission war die posthume Erforschung des Feindes, für die der Chefideologe eine sogenannte Hohe Schule gründen wollte. Für sie ließ er Bücher und Dokumente in ganz Osteuropa zusammenstehlen.
„Alles, was geeignet ist, das bolschewistische Leben in der Sowjetunion anschaulich zu schildern, sollte direkt nach Berlin gehen“, hieß es aus dem Einsatzstab. Seit 1936 hatte Rosenberg Hitler wegen der Parteischule schon in den Ohren gelegen, nun sollte sie nach dem Krieg aufgebaut werden. Um die insgesamt 17 geplanten Institute der Hohen Schule auszustatten, begann ein Raubzug ungeahnten Ausmaßes, für den sich Rosenberg zahlreiche Spezialisten an seine Seite holte: Archivare, Bibliothekare, Historiker und Archäologen.
Nichts war vor den Deutschen sicher
In Dneprpetrowsk, dem heutigen Dnipro, das sich ab dem 25. August 1941 in deutscher Hand befand, staunte man in den Instituten, Hochschulen, Betrieben, Parteiorganisationen, Archiven und Museen sehr, wie akribisch die Deutschen zunächst die Bestandslisten der Institutionen durchforsteten.
„Als die Stadt besetzt war, kam aus Deutschland eine Expertenkommission.“
Sagt Valentina Sazuta vom Historischen Nationalen Museum in Dnipro, in dem sie schon über 45 Jahre arbeitet.
„Die Deutschen schlossen das Museum für Besucher und die Spezialisten begannen sehr gründlich, die Inventarbücher zu studieren. Sie verglichen die Listen und kontrollierten, was nach der Evakuierung durch die sowjetischen Behörden noch vorhanden war. Und später stellte sich heraus, dass sie einen großen Teil der archäologischen Sammlung und auch Gemälde nach Deutschland gebracht haben.“
Die ukrainische Historikerin Tetjana Sebta hat sich auf die Erforschung der Nazi-Raubzüge spezialisiert. Bücher, Plakate, Filme und Berge von Akten – nichts war vor den Deutschen sicher.
„Sie studierten die kommunistische bolschewistische Ideologie, die Propaganda. Sie wollten wissen, wie das in die Praxis umgesetzt wurde, in der Medizin oder Landwirtschaft der Sowjetunion. Was hatte es auf sich mit den Kolchosen? Es ging darum, wie die Sowjetunion aufgebaut war.“
Die Museumshistorikerinnen in Dnipro suchen seit Jahrzehnten nach geraubter Kunst
So sollte das Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt, ein Ableger der Hohen Schule, eine eigene Bibliothek hauptsächlich mit jüdischer Literatur bekommen, darunter massenhaft Schriften aus Kiew. Rosenbergs Einsatzstab packte trotz der ungeheuren Mengen dennoch nicht wahllos alles ein, erklärt Julia Pischanska, die Direktorin des Historischen Museums von Dnipro.
„Die Deutschen nahmen mit, was einen Bezug zur deutschen Kultur hatte. Das Denkmal von Katharina der Großen zum Beispiel. Es stellte eine Deutsche dar und der Bildhauer war ein Deutscher, somit war es eine Art Leuchtturm für deutsche Kunst. Auch bei den Ausgrabungen ging es um Deutschtum. Dass auf dem Gebiet um Dnipro Goten lebten, war für hiesige Archäologen nichts Neues, aber für die Deutschen. Ein Beweis, dass hier Arier gelebt haben und sie ein Anrecht auf diese Gebiete hätten.“
Von dem imposanten mehrere Meter großen Katharina-Denkmal fehlt jede Spur. Ein Verlust, den die ukrainischen Museumsmitarbeiterinnen, anders als bei sehr vielen anderen Exponaten, zu verschmerzen scheinen. Wohl, so ist die Direktorin zu verstehen, weil Katharina die Große Russland repräsentiert, das im nahen Donbass Krieg gegen die Ukraine führt.
„Die Russische Föderation geht heute bei der Okkupation ähnlich vor. Es werden Anzeichen dafür gesucht, dass hier Russen lebten. Nicht slawische Völker, sondern eben genau Russen. Zugleich wird behauptet, dass Ukrainer nie existierten. Dieses unwissenschaftliche ideologische und fanatische Vorgehen ist typisch für totalitäre Diktaturen, die Besetzungskriege führen. Sie suchen eine Rechtfertigung, weil ein Befreiungskrieg besser als ein Besatzungskrieg klingt. “
Wo einst das Katharinen-Denkmal in Dnipro stand, befinden sich heute am Historischen Museum archäologische Figuren.
Oksana Rudkowskaja, die Museumsarchäologin, zeigt auf den alten Standort des Katharinen-Denkmals.
„Zuletzt stand es hier rechts neben dem Museum und dann war es fort. Katarina die Große ist seit 80 Jahren verschwunden. Jetzt stehen hier 49 Steinfiguren, 38 von dem Kiptschaken aus dem 9. bis 13. Jahrhundert und von den Skythen aus dem 5. oder 6. Jahrhundert vor Christus.“
Auch diese archäologischen Kostbarkeiten hätten bei den Nazis große Begehrlichkeiten geweckt. Die Statuen wurden in oder auf Hügelgräbern gefunden, sogenannten Kurganen, die oft reich bestückt sind. Mindestens 15.000 verteilen sich über die meist flache Landschaft der Ostukraine. Weil die Hohe Schule der Nazis auch ein Institut für nordisch-germanische Geschichte des Ostraumes bekommen sollte, war das Gebiet um Dneprpetrowsk von besonderem Interesse für Rosenbergs Einsatzstab.
Und nicht nur für ihn, denn der Nazi-Ideologe hatte Konkurrenz. Etwa in Gestalt des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, der seine Leute mit der 1935 gegründeten Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Ahnenerbe“ auf Ausgrabungen an den Fluss Dnepr schickte. Oksana Rudkowskaja vom Historischen Museum im ukrainischen Dnipro findet die selektive Fixierung der Nazi-Archäologen auf angebliche deutsche Spuren auch aus wissenschaftlicher Sicht äußerst befremdlich.
„Diese ganze Goten-Romantik ließ ihnen keine Ruhe. Und sie suchten so etwas wie eine Hauptstadt. Aber es gibt hier keine solche Goten-Hauptstadt. Dafür jede Menge archäologische Denkmäler, die heute noch unberührt im Boden sind. Noch immer sind Expeditionen mit Ausgrabungen beschäftigt.“
Zahlreiche Stämme haben Zeugnisse hinterlassen
Während der Völkerwanderung 300 bis 600 Jahre nach Christus vermischten sich sehr viele Stämme in der Region, alle hätten zahlreiche Zeugnisse hinterlassen. Auch die Skythen, die schon vor gut 2000 Jahren in der Südukraine lebten, die die Nazis ebenfalls als frühe Vorfahren betrachteten, wie später die Goten.
„Dies sind protoarische, also vor-arische und arische Kulturen. Ich zeige sie Ihnen. Hier ist ein Querschnitt eines Hügelgrabes. In einem wurde ein Kind gefunden, unklar, ob Junge oder Mädchen. Und hier kommen die Goten. Dies ist eine Darstellung eines toten Kriegers, die Ikonografie ist erhalten: Kriegerfrisur, lange Haare, Zöpfe und abgeschnittene Nase“, sagt Oksana Rudkowskaja.
Die Nazi-Expeditionen mussten ortskundige Wissenschaftler begleiten. Der ukrainische Direktor des Museums von Dneprpetrowsk, Pawel Kosar, wurde zu einer dreiwöchigen Ausgrabungstour verdonnert, was ihm später jede Menge Ärger einbrachte, erläutert die Dienstälteste des Museums, Valentina Sazuta.
„Kosar nahm teil, weil er selbst Archäologe war. Nach dem Krieg beschuldigte ihn die Sowjetmacht des Nationalismus und, ein Bourgeois zu sein. Er verschwand aus dem Museum und wurde politisch verfolgt, weil er mit den Besatzern zusammengearbeitet hatte.“
Nur einen Teil der Sammlung konnten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor den Nazis verstecken, sagt Mueseumsdirektorin Kateryna Tschujewa.
Das Museum für westliche und östliche Kunst in Kiew war die drittwichtigste Sammlung der Sowjetunion, nach der Tretjakow-Galerie in Moskau und der Eremitage. Dem Gründer- und Sammlerehepaar Bogdan und Warwara Chanenko zu Ehren wird es heute noch Chanenko-Museum genannt. Untergebracht ist es in deren Villa, ein wohnlicher, im italienischen Stil erbauter Stadtpalast. Die Direktorin, Katerina Tschujewa, eine junge Frau mit asymmetrischem Haarschnitt, über das traurigste Kapitel des Hauses:
„Einen Teil der Sammlung konnten die Mitarbeiter vor den Nazis verstecken. Die Besatzer nahmen sich aus dem Bestand, was sie später nach Deutschland schickten, und womit sie ihre Verwaltungsräume und Dienstwohnungen in Kiew dekorieren wollten. Das dokumentierten sie in Listen, die noch in unseren Archiven zu finden sind.“
Nichts war vor den deutschen Marodeuren sicher. Sie bedienten sich auch privat, viele Bilder sind bis heute verschollen, vermutlich hängen sie in deutschen Wohnzimmern. Die ukrainische Beutekunst-Expertin Tetjana Sebta nennt die größten Diebe.
„Der Reichskommissar für die Ukraine, Erich Koch, stahl zum Beispiel 16 Bilder aus dem Chanenko-Museum und ein Bild aus dem Russischen Museum mit dem Titel „Mädchen in roter Tracht“. Die allermeisten Bilder nahm Generalkommissar Waldemar Magunia mit. 48! 27 sind wiederaufgetaucht, 21 fehlen noch immer.“
Museumsmitarbeiter suchen bis heute Kunstwerke
Viele Schätze sind zwar während der Kämpfe und auf den Transporten im Krieg zerstört worden, doch immer wieder werden welche zum Kauf angeboten. Deswegen sind viele ukrainische Museumsmitarbeiter bis heute wachsam, auch Katerina Tschujewa vom Chanenko-Museum.
„1943 gingen die Transporte los. Angeblich seien die Exponate in einem Schloss bei Königsberg verbrannt, aber ob das geschah und wie viele tatsächlich vernichtet wurden, ist bis heute unklar. In den Verlustlisten nach dem Krieg sind 25.000 Kunstwerke aufgeführt, darunter 20.000 Kupferstiche, unter anderem von Rembrandt und Dürer. Und uns fehlen 450 Gemälde. Unser Museum sucht bis heute diese Arbeiten.“
Nach dem Krieg lagerten in den ausgeraubten Kiewer Museumsräumen zwischenzeitlich fast 100.000 Werke der Dresdener Gemälde-Galerie. Die sowjetische Trophäenbrigade hatten Kunst vor allem in Ostdeutschland als Entschädigung für ihre zuvor erlittenen Verluste in der Sowjetunion konfisziert.
Die Gemäldegalerie bekam ihre Bilder von 1950 an zurück. Eine Geste der UdSSR an den Bruderstaat DDR. Für das Chanenko-Museum verlief die Rückgabe sehr viel schleppender. Bis heute sind erst vier Bilder zurückgekehrt, zwei davon hat Olena Schiwkowa auf internationalen Auktionen entdeckt, wie sie am Telefon aus dem Urlaub erzählt.
„Vorher war Beobachtung der Auktionen lediglich ein Hobby, jetzt ist es Teil meiner Arbeit. Ich schaue monatlich die Kataloge der Auktionshäuser durch. Alle Gemälde, die wir vermissen, habe ich im Kopf. Zusätzlich haben wir von 474 Arbeiten Schwarz-Weiß-Fotografien. Es gibt unzählig viele Bilder, die sich ähneln. Aber ich weiß ganz genau, wie zum Beispiel unser Venedig-Gemälde aussieht, und weiß damit sehr genau, was ich suche.“
Neue Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg
Wonach das Museum fahndet, hat es auf die Lost-art-Liste gestellt, ein Online-Verzeichnis für vermisste Kunstwerke. Im Februar 2014 wurden bei vielen ukrainischen Kunstliebhaber urplötzlich Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wach, sagt Olena Schwikowa. Als Russland die Krim annektierte.
„Es gibt so ein Sprichwort: Hoffe auf das Beste, aber nimm das Schlimmste an. 2014 haben wir überlegt, ob wir evakuieren, denn es war absolut nicht klar, was der russische Präsident Putin mit unserem Land vorhatte. Aber aus dem Zweiten Weltkrieg wissen wir, dass die Schäden durch Transporte an Plätze, die nicht geeignet sind für die Lagerung von Kunstschätzen, im Zweifel noch verheerender sein können. Wir fanden es besser, die Bilder in unsere Keller zu bringen.“
Neben dem Einsatzstab Rosenberg, dem „Ahnenerbe“ von der SS und dem sogenannten Kunstschutz von der Wehrmacht war auch das Einsatzkommando Künsberg vom Auswärtigen Amt des „Dritten Reiches“ hinter Kunst und Büchern her, vor allem aber hinter Urkunden und Kartenmaterial.
„Freiherr von Künsberg, das war der, der das initiiert hat. Eine ganz windige Gestalt. Wirklich ein Taschenspieler, der sich da im Auswärtigen Amt irgendwie Freunde gemacht hat und für den geografischen Dienst des Auswärtigen Amtes den Auftrag hatte, in besetzten Gebieten Materialien sicherzustellen.“
Sagt die Osteuropa-Historikerin Corinna Kuhr-Korolev vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung. Denn dieses Künsberg-Kommando hatte 1941 in Kiew die Wernadski-Bibliothek samt Handschriftenabteilung beschlagnahmt, darunter ein Original-Schriftstück von Zar Peter dem Ersten. Diese Zarenurkunde hing seit Ende der 1950er-Jahre in der Universität Tübingen, doch erst über 70 Jahre später, ab 2014, fragte man sich dort, was es mit der Urkunde auf sich hat.
„Es war auch allen bewusst, dass sich um ein Original handelt, dass sie eigentlich nicht dahin gehört, und trotzdem hat es bei niemandem so richtig klick gemacht: Das müssen wir jetzt zurückgeben. Insofern war das keine Entdeckung, sondern es war eigentlich nur eine Neu-Überlegung und noch mal der Anstoß: Wir müssen der Sache noch einmal nachgehen.“
Die Zarenurkunde, heute wieder in der Wernadskij-Bibliothek in Kiew, hing lange in der Universität Tübingen.
Das imposante Pergament von anderthalb Metern Größe bekam während des Konfliktes mit Russland eine neue kirchenpolitische Bedeutung. Denn das Schriftstück bestätigt die Einsetzung des Metropoliten, also eines Vertreters der Moskauer orthodoxen Kirche in Kiew.
„Von 1708 ist die Urkunde mit einem handtellergroßen Wachswappen des Zaren. Supertoll erhalten, wie neu eigentlich. Und diese Urkunde ist politisch ein kleines bisschen heikel, weil darin dieser Metropolit noch mal betont, dass er sich wirklich dem Moskauer Patriarchat unterordnet und eben nicht nach Byzanz ausrichtet. Und genau diese Passage, in der das ausgeführt wird, die fehlt in einer Abschrift.
Insofern war das die Rückgabe eines schönen Kunstwerks und kulturhistorisch wichtigen Zeugnisses, das wirklich nach Kiew gehört. Interessant eben auch mit dieser Passage, die man deuten kann, da hat sich die Kiewer Kirche noch mal explizit dem Moskauer Patriarchat unterstellt. Oder umgekehrt die Moskauer wollten sich dieser Unterstellung noch mal versichern.“
Wenig Begeisterung in der Ukraine
2019 gab die Tübinger Universität die Zarenurkunde fast unbemerkt an die Kiewer Wernadski-Bibliothek zurück. In der Ukraine hielt sich der Jubel trotzdem in Grenzen, auch weil der deutsch-ukrainische Restitutionsdialog eine einzige Enttäuschung für die Ukrainer ist. Das hätte auch an den Erwartungen gelegen, die 1993 als der Dialog begann, viel zu groß waren, sagt der Historiker Sergej Kot, der damals Mitglied der ukrainisch-deutschen Restitutionskommission ist.
„Wir waren Idealisten, als wir den Dialog begonnen haben. Wir dachten, wenn wir Sachen zurückgeben, dann tut Deutschland das auch. Denn dort liegt alles, was wir vermissen. Stattdessen kamen nur einzelne Stücke zurück. Praktisch nichts, im Vergleich zu den Verlusten der Ukraine.“
Ein Vorwurf, den der Historiker auf die aktuelle Diskussion bezieht, nicht aber auf die umfangreichen Rückgaben direkt nach dem Krieg. Riesige Mengen des Raubgutes hatten die Nazis zwischengelagert. Die US-Truppen führten diese Depots an sogenannten Collecting Points zusammen und schickten bis 1948 über einer halben Million Objekte wieder in die Sowjetunion zurück.
Wolfgang Eichwede, wohl der erfahrenste Restitutionsexperte in Deutschland, muss den deutschen Museen darum glauben, wenn sie sagen, dass sie keine Raubkunst aus der Ukraine haben.
„Wahrscheinlich ist in öffentlichen Beständen wenig bis gar nichts. Deshalb, weil die NS-Stäbe, die in der Sowjetunion geklaut haben, ihre Güter ja nicht verteilt haben bis zum Ende des Krieges an Museen, sondern weil sie eben in den Depots geblieben sind.“
In privaten Händen dürfte sich dagegen noch vieles befinden, was die Großväter im Krieg mitgenommen haben. Wie das Zaren-Gemälde aus Dneprpetrowsk. Deutsche Familien müssten mal in ihren Wohnzimmern nachsehen und sich dann von dem einen oder anderen Kunstwerk des Vaters oder Großvaters trennen.